Mehr als 19'000 Menschen wurden innerhalb 24 Stunden aus Kabul evakuiert – in Militärmaschinen und zivilen Flugzeugen. Doch spätestens am Wochenende wird die Luftbrücke auf Befehl von Präsident Joe Biden wohl abgebrochen.
Augenzeugen berichteten auch am Mittwoch von chaotischen Szenen am Flughafen von Kabul. Von Menschengruppen, die von den neuen afghanischen Machthabern daran gehindert wurden, den unter Kontrolle der amerikanischen Streitkräfte stehenden Hamid Karzai International Airport zu betreten.
Von verzweifelten Afghanen, die durch einen Abwasserkanal wateten, um den Taliban zu entgehen und von westlichen Soldaten gerettet zu werden. Und von überforderten Angehörigen der US-Streitkräfte, die buchstäblich Entscheidungen über Tod und Leben treffen müssen.
Devastating scenes at Kabul airport. Knee deep in sewage, waving their papers, begging to be let in. @ABC #Kabul #Taliban #Afghanistancrisis pic.twitter.com/BZccCe1vu8
— Ian Pannell (@IanPannell) August 25, 2021
Obwohl die Evakuierung Kabuls gemäss dem Befehl von US-Präsident Joe Biden in weniger als einer Woche zu ihrem Ende kommen wird, herrscht in Washington immer noch weitgehend Unkenntnis über die Zahl der Menschen, die noch evakuiert werden müssen. US-Medien berichten von Zehntausenden von Mitarbeitern westlicher Hilfswerke und gemeinnütziger Organisationen, die Gefahr liefen, von den Taliban aufgegriffen zu werden.
So beschäftigten die Vereinten Nationen direkt oder indirekt etwa 30'000 Menschen in Afghanistan. Bisher habe die UNO aber keine Versuche gemacht, diese lokalen Hilfskräfte zu evakuieren, berichtete die Washingtoner Publikation «Politico».
Die «Association of Wartime Allies», die bis zum Abzug sämtlicher westlicher Streitkräfte möglichst viele afghanische Ortskräfte ausfliegen möchte, sprach am Mittwoch gar von mehr als 260'000 Afghanen. Mehrere Zehntausend sollen dabei Anrecht auf ein Spezialvisum, mit dem die USA ehemalige Helfershelfer der amerikanischen Streitkräfte für ihre Arbeit entschädigten.
Allerdings hinken diese Zahlen und Schätzungen der Realität immer um einige Stunden hinterher. So berichtete das Verteidigungsministerium in Washington am Mittwoch, dass sich aktuell mehr als 10'000 Menschen auf dem Flughafen von Kabul befänden und auf ihre Ausreise warteten. Anzunehmen ist, dass es sich dabei vor allem um afghanische Staatsangehörige handelte.
Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigte am Mittwoch, dass sich hochrangige US-Militärs im ständigen Dialog mit den Taliban befänden, um afghanischen Staatsbürgern die Reise zum Hamid Karzai International Airport zu ermöglichen.
Gleichzeitig verbreitete das Aussenministerium die Information, dass sich noch etwas mehr als 500 US-Staatsangehörige in Afghanistan befänden, die das Land verlassen möchten. Zudem versuchten amerikanische Diplomaten Kontakt rund 1000 Menschen aufzuspüren, die sich einst in der US-Botschaft in Kabul registriert hatten, sagte Aussenminister Antony Blinken.
«Wir glauben, dass die Zahl der Amerikaner, die aktiv um Hilfe sucht, um Afghanistan zu verlassen, niedriger ist, wohl signifikant niedriger.»
Wichtig ist diese Nummer, weil Präsident Biden den Abzug sämtlicher US-Truppen aus Kabul mit der Evakuierung sämtlicher US-Staatsbürger aus der afghanischen Hauptstadt verknüpft hat. In den Augen der Militärplaner im Pentagon ist dieses Ziel immer noch erreichbar; und nötigenfalls würden die amerikanischen Streitkräfte bis zur letzten Minute Menschen aus der afghanischen Hauptstadt ausfliegen, sagte Pentagon-Sprecher John Kirby.
Die Statistik des Verteidigungsministeriums deutet darauf hin, dass bis am Wochenende in der Tat noch Zehntausende Menschen aus dem Land gebracht werden könnten. So flogen westliche Streitkräfte und ihre zivilen Partner von Dienstagmittag bis Mittwochmittag (Lokalzeit) gegen 19'200 Menschen aus Kabul aus. Seit Beginn der Luftbrücke am 14. August wurden unter Federführung der US-Streitkräfte damit mehr als 82'000 Menschen evakuiert – was in etwa der Einwohnerzahl der Stadt Luzern entspricht.
Angesichts der anhaltenden Kritik setzt die Regierung Biden alles daran, dieses logistische Meisterwerk ins Zentrum der medialen Berichterstattung zu rücken. Mit grosser Zufriedenheit registrierte das Weisse Haus beispielsweise Vergleiche zur Schlacht von Dünkirchen im Zweiten Weltkrieg oder zur Berliner Luftbrücke in den Jahren 1948/49.
Auch vertreten Berater des Präsidenten nach wie vor die Meinung, dass es keine Alternative zur turbulenten Evakuierung Kabuls gegeben hatte. So verbreitete Stabschef Ron Klain auf Twitter einen Kommentars eines Journalisten weiter, der sagte: «Chaos war unvermeidlich.»