Coronavirus
Afrikanische Staaten verhängen Ausgangssperren – und vergessen dabei, dass ihre Bürger verhungern

Das Coronavirus macht auch vor dem afrikanischen Kontinent keinen Halt. Zwar sind die Länder Afrikas momentan noch nicht so stark vom Virus betroffen, die Regierungen ergreifen jedoch schon jetzt drastische Massnahmen – mit gravierenden Folgen.

Kevin Capellini
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Ein Soldat patrouilliert in Soweto in Südafrika die Strassen um sicherzustellen, dass sich die Menschen an die Ausgangssperre halten.

Ein Soldat patrouilliert in Soweto in Südafrika die Strassen um sicherzustellen, dass sich die Menschen an die Ausgangssperre halten.

Keystone

Zuerst in Asien, dann Europa, danach Nordamerika und nun Afrika: Das Coronavirus breitet sich global immer stärker aus und Regierungen aller Länder sahen sich zu drastischen Massnahmen gezwungen. Lockdowns und Ausgangssperren gehören mittlerweile zur Tagesordnung. Und auch wenn europäische Länder nun wieder über Lockerungen nachdenken, so ist ein Kontinent von solchen Überlegungen noch weit entfernt: Afrika.

Denn das Coronavirus breitet sich auf dem Kontinent weiter aus und in vielen Regionen ist die Gesundheitsversorgung dürftig, Corona-Tests selten und Spitäler weit entfernt. In den Slums und Ghettos der Grossstädte jedoch leben die Menschen dafür umso enger zusammen – perfekte Voraussetzungen für eine Krankheit wie das Coronavirus, welches sich so schnell verbreiten kann.

Aus diesem Grund greifen viele afrikanische Staaten nun zu den gleichen Mitteln wie die europäischen Regierungen, sie verhängen Ausgangssperren und schliessen Schulen und den öffentlichen Verkehr. So verlängerte am späten Samstagabend zum Beispiel Kenia die nächtliche Ausgangssperre um weitere 21 Tage, die Regierung von Nigeria verhängte für mehrere Grossstädte, darunter die 20-Millionen-Einwohner-Stadt Lagos, eine totale Ausgangssperre und Uganda schloss bereits sämtliche Schulen und staatliche Institutionen, bevor das Land überhaupt einen einzelnen Coronavirus-Fall hatte.

Doch was in Europa gut funktioniert, kann in Afrika schnell zur Katastrophe führen. Denn der grösste Teil der Menschen in Afrika lebt von der Hand in den Mund: Was am Tag verdient wird, wird re-investiert in Lebensmittel und die nötigsten Gebrauchsgegenstände – sparen und Reserven anlegen: unmöglich. Denn in den Slums von Nairobi, der Hauptstadt Kenias, leben hundert-tausende Menschen von gerade mal einem Dollar pro Tag. Und wenn sie nicht verdienen, da sie zu Hause bleiben müssen, haben sie auch nichts zu Essen.

Polizei reagiert mit Gewalt

Die Hütte von Alex Madikane hätte wegen des Coronavirus abgerissen werden sollen: Die Südafrikanische Regierung versucht, Häuser in den dichtbesiedelten Slums abzureissen, damit die Menschen nicht so dicht aufeinander wohnen.

Die Hütte von Alex Madikane hätte wegen des Coronavirus abgerissen werden sollen: Die Südafrikanische Regierung versucht, Häuser in den dichtbesiedelten Slums abzureissen, damit die Menschen nicht so dicht aufeinander wohnen.

Keystone

Das führt dazu, dass Millionen von Menschen auf sich alleine gestellt sind. Charles, ein Taxifahrer aus Nairobi, erzählt via Skype-Gespräch: «Seit Wochen darf ich keine Kunden mehr bedienen, niemanden mehr transportieren, ich kann nur noch zu Hause bleiben, zusammen mit meiner Frau und unserem Baby.» Zwar dürfe man am Tag noch einkaufen gehen, ab 19 Uhr sei es dann jedoch verboten, das Haus zu verlassen. «Einkaufen ist ja gut und recht aber mit welchem Geld?», fragt Charles. Und Charles ist nur einer von vielen. Die Menschen sind auf sich selbst gestellt – und dann oft eben auch verloren.

Für 48 Millionen Menschen gibt es in meinem Land 400 Intensiv- und 800 Isolationsbetten in den Spitälern.

Das bestätigt Delatrixs, eine 20-jährige Coiffeuse, ebenfalls aus Nairobi: «Ich lebe alleine und wenn ich keine Kundinnen habe, verdiene ich auch kein Geld. Wie also soll ich überleben, denn die Regierung kümmert sich nicht um uns.» So könne sie nur zu Hause bleiben und warten. Denn sie habe Angst, sich anzustecken. Aber auch wenn sie sich krank fühlen sollte, zum Arzt könne sie ja auch nicht. Denn für den Coronavirus-Test und eine allfällige Isolation im Spital müsse sie selber bezahlen – und Nahrungsmittel müsse sie auch selber mitbringen.

Doch dass sie überhaupt einen Platz in einem Spital erhalten würde, sollte sie denn krank werden, bezweifelt Delatrixs «in Kenia gibt es für 48 Millionen Einwohner gerade mal 400 Intensiv- und 800 Isolationsbetten. Da kann ich als Slum-Bewohnerin noch lange warten.»

Und so sei die Stimmung angespannt im Kawangware Slum in der kenianischen Hauptstadt, wo rund 60 Prozent der Bevölkerung in teils gigantischen Elendsvierteln lebt.

Es komme immer mehr zu Diebstählen und Gewalt. «In der Nacht höre ich oft Schüsse, das sind Polizisten, die in die Luft feuern, wenn sie Menschen auf der Strasse sehen.» Manchmal, da reiche es auch, wenn die Polizisten Menschen auf ihren Balkons sehen, denn selbst das sei in Kenia verboten. Beim zweiten von drei Skype-Gesprächen hört man denn auch durch das Telefon die Schüsse der Polizisten.

Doch es bleibt nicht nur bei Schüssen in die Luft. Fast täglich tauchen neue Whatsapp-Videos auf, die zeigen, die Polizei und Militär mit Gewalt auf Übertretungen der Ausgangssperre reagieren und mit Schlagstöcken auf alles einschlagen, das sich bewegt. Dutzende Menschen sind dabei bereits gestorben.

Hilfe kommt – so heisst es zumindest

Ein Soldat verteilt Menschen in den Ghettos von Soweto in Südafrika einen Info-Flyer.

Ein Soldat verteilt Menschen in den Ghettos von Soweto in Südafrika einen Info-Flyer.

Kystone

Um die Gemüter zu beruhigen versprechen die Regierungen Nothilfe, sie wollen Lebensmittelpackungen verteilen um so den ärmsten Menschen zu helfen. Doch vielerorts trifft die Nothilfe gar nicht erst ein, erzählt Alexandria, eine junge Radiojournalistin aus Kampala, der Hauptstadt Ugandas. «Die Regierung erklärt den Notstand, das ist ja gut, aber sie tut das genau für Entebbe (dort liegt der internationale Flughafen, Anm. d. Red.) und die Hauptstadt Kampala.»

Doch um das restliche Land, um die restlichen 34 Millionen Einwohner des Landes, würde sich niemand kümmern, sagt sie. Und wie diese Menschen überleben sollen, die keine Arbeit und kein Geld und somit auch keine Nahrung mehr hätten, das wisse wohl niemand.

Und wo die Nothilfe eintrifft, da geschieht das hauptsächlich dank Beziehungen, erzählt etwa Delatrixs. «Seit acht Wochen kann ich nicht mehr arbeiten, ich bin also auf Unterstützung angewiesen. Doch bekommen hätte ich bis heute überhaupt nichts.» Nur dank einer ehemaligen Schulfreundin, die im kenianischen Innenministerium arbeitet, konnte sie eines der «Überlebenspäckli» heimlich erhalten. «Ansonsten wäre ich, wie so viele andere, leer ausgegangen und würde irgendwann verhungern.»

Denn die Nahrungsmittel, die Ausgegeben werden, die würden nirgendwo hinreichen und so komme es zu Gedränge, Handgemengen und engen Schlangen, Menschen stehen dicht gedrängt und warten – teils während Stunden. Währenddessen predigt die Regierung: haltet Abstand.

Aus Verständnis wird Wut

Social Distancing wäre angesagt. Doch stattdessen kommt es bei der Nahrungsmittelabgabe im Kibera Slum in Nairobi zu Auseinandersetzungen.

Social Distancing wäre angesagt. Doch stattdessen kommt es bei der Nahrungsmittelabgabe im Kibera Slum in Nairobi zu Auseinandersetzungen.

Keystone

Dass Regierungen das öffentliche Leben einschränken würden, habe man vielerorts verstehen können, berichte etwa die Wochenzeitung «The East African» zu Beginn der Corona-Pandemie in Afrika. Doch schnell seien die Einschränkungen zu einem Problem geworden. Denn die Regierungen würden zwar schnell Verbote erlassen, sich jedoch nicht um die Bürger kümmern, was nun zu Hungerkrisen und Todesfällen in ganz Afrika führen werde.

Eskaliert ist die Situation zum Beispiel in Südafrika, das Land, das in Afrika am stärksten vom Coronavirus betroffen ist. Auch dort ist die Grundversorgung mit Lebensmitteln durch die Regierung so schlecht, dass es immer wieder zu gewaltvollen Ausschreitungen zwischen der Armee und Slum-Bewohner kommt, die um Lebensmittel kämpfen. Denn zu viele Südafrikaner würden bei der Verteilung der Lebensmittel leer ausgehen. Rund 70'000 Soldaten wolle die Regierung nun mobilisieren, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, berichtet die «NZZ».

Und solch ein Vorgehen zeigt, wie schlecht viele Regierungen in afrikanischen Ländern auf eine Krankheit wie das Coronavirus vorbereitet sind, ja sogar die gleichen Fehler wie bei der Ebola-Epidemie von 2014 machen: Sie kopieren die drastischen Massnahmen aus Europa, schliessen Schulen und staatliche Behörden, stellen den lokalen Busbetrieb ein, verhängen Ausgangssperren und strapazieren das ohnehin schon überlastete System noch weiter.

Zentralistische Regierungen entscheiden, ohne sich mit den Behörden auf «kantonaler» oder Gemeinde-Ebene zu koordinieren. Betriebe werden geschlossen und Menschen ihrer Existenz-Grundlage beraubt. Und dabei geht bei den Entscheidungsträgern in afrikanischen Ländern eines vergessen: Die Lebensbedingungen in Afrika sind anders. Es gibt weder Kurzarbeitergeld noch Arbeitslosenversicherung noch Renten. Und Sparkonti haben die meisten Menschen sowieso nicht. Und so besteht die Gefahr, dass die Massnahmen der Regierungen gegen das Coronavirus noch weit gefährlicher sein könnten als das Coronavirus selbst.

WHO warnt: Zahl der Malaria-Toten in Afrika könnte wegen Corona stark steigen

In Afrika könnten in diesem Jahr doppelt so viele Menschen an Malaria sterben wie in anderen Jahren, wenn der Kampf gegen die Infektionskrankheit durch die Coronavirus-Pandemie behindert wird. Davor warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Donnerstag kurz vor dem Welt-Malaria-Tag (25. April). Im schlimmsten Fall rechnet die WHO nach Modellrechnungen südlich der Sahara mit 769'000 Toten, doppelt so viele wie 2018. Das wäre eine Todesrate wie zuletzt vor 20 Jahren.

Die WHO ruft dringend dazu auf, möglichst zügig wie bislang mit Insektenspray behandelte Moskitonetze und Medikamente zu verteilen, bevor Einschränkungen wegen der Ausbreitung des Coronavirus solche Aktionen womöglich einschränken oder unmöglich machen.

Mehr als 90 Prozent der Malaria-Infizierten weltweit leben und sterben nach WHO-Angaben in Afrika südlich der Sahara. Zweidrittel der Toten seien Kinder unter fünf Jahren. Weltweit waren es 2018 nach Schätzungen etwa 228 Millionen Fälle und 405'000 Tote.

Malaria wird durch Parasiten hervorgerufen, die durch den Stich einer Stechmücke übertragen werden. Betroffen sind Regionen in den Tropen und Subtropen. Seit 2004 haben die WHO und Partner weltweit mehr als zwei Milliarden behandelte Moskitonetze verteilt. (dpa)