USA
«Ein schwarzer Tag für Amerikas Frauen»: Der Supreme Court kippt nach fast 50 Jahren die liberale Abtreibungsregelung

Das höchste Gericht Amerikas sagt, die Verfassung sehe kein Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch vor. Eine Hälfte des Landes reagiert wütend auf dieses Urteil, die andere freut sich.

Renzo Ruf, Washington
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Abtreibungsbefürworterinnen reagieren am Freitag emotional auf das Urteil des Supreme Courts in Washington, das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch zu kippen.

Abtreibungsbefürworterinnen reagieren am Freitag emotional auf das Urteil des Supreme Courts in Washington, das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch zu kippen.

Jacquelyn Martin / AP / keystone-sda.ch

Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Mit diesen Worten reagiert am Freitag eine religiöse Aktivistin auf das historische Urteil des Supreme Courts in Washington, dass sich aus der US-Verfassung kein Recht auf Abtreibung ableiten lasse.

Die Frau aus Kalifornien, die sich J.C. nennt, sagt in der Menschenmenge vor dem abgesperrten Gerichtsgebäude: Endlich habe der Supreme Court «das grösste Unrecht in der Geschichte Amerikas» korrigiert. Aber, leider, habe ihre Seite, die «Pro Life»-Bewegung, damit noch nicht gewonnen. Kurzfristig, sagt die Frau im Gespräch mit CH Media, werde die Zahl der Abtreibungen wohl noch zunehmen, vor allem in ihrem Heimatstaat, in dem die Demokraten das Sagen haben.

Abtreibungen in der Hälfte der US-Staaten illegal

Das stimmt: Der Supreme Court entschied am Freitag, mit fünf zu vier Stimmen, ein Leiturteil aus den frühen Siebzigerjahren zu kippen. Künftig fällt die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen damit wieder in die Zuständigkeit der 50 Bundesstaaten – so wie es das letztmals vor 1973 der Fall gewesen war.

Allerdings fiel dieses Urteil – «ein schwarzer Tag für Amerikas Frauen», wie es eine Demonstrantin formulierte – nicht im luftleeren Raum. Konservativ regierte Bundesstaaten rüttelten seit Jahren am harzig gefundenen Kompromiss, dass Schwangerschaftsabbrüche in den Anfangsmonaten nicht eingeschränkt werden dürfen.

Solche Gesetze, entschied der Supreme Court am Freitag auch, sind zulässig. Die Bundesstaaten besitzen das Recht, Schwangerschaftsabbrüche drastisch einzuschränken oder gar vollständig zu verbieten. Die direkte Folge: In rund der Hälfte der US-Bundesstaaten wird es Frauen künftig nicht mehr möglich sein, Abtreibungen legal vorzunehmen. Einige Staaten werden Schwangerschaftsabbrüche gar im Fall von Vergewaltigungen oder Inzest verbieten.

Mit Tränen in den Augen

In den Augen der New Yorker Historikerin Laura Free, die sich auf Gleichstellungsfragen spezialisiert hat, ist das Grundsatzurteil des Supreme Courts deshalb «eine Tragödie». Die 51-Jährige sagt am Freitag, mit Tränen in den Augen, sie habe vor allem Angst um das Wohl von jungen Frauen – die nun nicht mehr selbstständig über das Ende einer ungewollten Schwangerschaft entscheiden können, sondern der Willkür religiöser, weisser Männer ausgesetzt seien, die in den Staatsparlamenten neue Abtreibungsrechte verabschiedeten.

In den Augen von Free ist der Streit um das Recht auf Abtreibungen in erster Linie «eine Machtfrage»: Eine Minderheit wolle einer Mehrheit vorschreiben, wie sie zu leben habe. Damit steht die Historikerin nicht allein. Viele linke Amerikanerinnen und Amerikaner bezeichnen das Abtreibungsurteil als einen weiteren Schritt der konservativen Gerichtsmehrheit, verhältnismässig junge Grundrechte zu kassieren.

Angst vor Abbau der Grundrechte

Richter Samuel Alito, der im Auftrag des konservativen Blocks am Supreme Court, das Haupturteil schrieb, weist diese Behauptung allerdings zurück. Das Gericht hege keine Absicht, «andere Präzedenzfälle», die «nichts mit Abtreibung zu tun haben», in Frage zu stellen. Mit dieser Zusicherung wollte Alito, dessen Urteilsentwurf vor einigen Wochen durchgesickert war und heftige Reaktionen ausgelöst hatte, wohl die Nerven von Menschen zu beruhigen, die zum Beispiel Angst vor einem Verbot von Homosexuellen-Eheschliessungen haben.

Dennoch werden die Demokraten in Washington – die im Senat und Repräsentantenhaus eine knappe Mehrheit der Sitze stellen – wohl in den nächsten Tagen noch einmal einen Anlauf nehmen, gewisse Grundrechte in Gesetzestexten zu kodifizieren. Diese Anstrengungen sind allerdings auch parteiintern umstritten; so unterstützen zwar fast sämtliche demokratischen Abgeordneten das Recht auf Abtreibungen. Intern wird aber darüber gestritten, ob sich das hochemotionale Thema Schwangerschaftsabbruch dafür eignet, im Wahlkampf 2022 um Stimmen zu werben.

Religiöse Amerikanerinnen und Amerikaner verstehen die Ängste des «Pro Choice»-Lagers nicht. Die 20-jährige Nina, die sich mit einer Gruppe von Studentinnen und Studenten vor dem Supreme Court versammelt hat, sagt: Ziel sei es, das Leben von Mutter und Kind zu schützen und Abtreibungen im ganzen Land «illegal und überflüssig» zu machen. Schwangere Frauen müssten künftig besser unterstützt werden, sagt die junge Frau – während sie von jungen Demonstrantinnen umgeben ist, die religiöse Lieder singen.

Die Stimmung ist ausgelassen. Abtreibungsgegnerinnen sagen, sie hätten auf diesen Tag seit Jahren gewartet und jeden Tag darum gebetet. Zahlenmässig sind sie aber heute unterlegen. Die Gruppe der Abtreibungsbefürworterinnen – einige Hundert Menschen, wobei Frauen auch hier die Mehrheit stellen – vor dem Supreme Court ist grösser. Die «Pro Choice»-Aktivistinnen sind wütend und enttäuscht. Einige weinen, andere kündigen heftigen Widerstand gegen das Urteil an. «Wir bezahlen Ihre Abtreibung», steht auf einem Plakat, das eine Aktivistin hochstreckt.

Die konservativen Aktivisten Neydy Casillas und Sebastian Schuff vor dem Supreme Court in Washington.

Die konservativen Aktivisten Neydy Casillas und Sebastian Schuff vor dem Supreme Court in Washington.

Renzo Ruf

Am Rande der beiden Gruppen, die seit Tagen vor dem Supreme Court auf das Abtreibungsurteil warteten, stehen Neydy Casillas und Sebastian Schuff. Sie stammt ursprünglich aus Mexiko, er aus Argentinien. Nun lebt das Ehepaar im Grossraum Washington, seit drei Jahren glücklich verheiratet. Leider, sagt Casillas im Gespräch, habe sich der Wunsch nach einem Kind bisher nicht erfüllt.

Deshalb halten Casillas und Schuff nun ein Plakat in den Händen, auf dem zu lesen ist: «Wir werden Ihr Kind adoptieren.» Adoption sei die beste Lösung bei ungewollten Schwangerschaften. Gefragt, ob sie bereits Angebote bekommen habe, sagt Casillas: «Nein, leider nicht.»