Die Unionsbürgerrichtlinie der EU ist bloss Projektionsfläche der Parteipolitik. Die Furcht vor Masseneinwanderung in den Sozialstaat ist übertrieben.
Es gab eine Zeit, da hatte das Wort «Sozialschmarotzer» in der Schweiz Konjunktur. Es begann vor 25 Jahren mit dem Aufstieg der SVP und kulminierte rund um die Jahrtausendwende im Kontext der Ausländerdebatten, der Einführung der Personenfreizügigkeit oder der Diskussion über «Scheininvalide». Die Richtung war immer dieselbe: Während rechtschaffene Bürger ihrer geregelten Arbeit nachgehen, machen es sich «Sozialschmarotzer» in der staatlich ausgebreiteten Hängematte bequem. Und ja: Vielfach handle es sich dabei um Ausländer oder eingebürgerte Migranten, so die gemeine Unterstellung.
Noch ist der «Sozialschmarotzer» zwar nicht zurück. Doch im Streit um die Unionsbürgerrichtlinie und deren allfälligen Übernahme im Zuge des institutionellen Rahmenabkommens blickt er schon um die Ecke. Besonders die Bürgerlichen sind alarmiert: Die Unionsbürgerrichtlinie würde den Zugang von EU-Bürger zu Sozialleistungen vereinfachen. Die Rede ist von der «Einwanderung in den Sozialstaat». Aus Furcht davor wurde das EU-Regelwerk deshalb als «No Go» erklärt. Eine Rote Linie, die der Bundesrat nicht überschreiten dürfe.
Aber was würde eine Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie, auf die die EU schon seit über zehn Jahren drängt, überhaupt bedeuten? Über die Auswirkungen weiss niemand richtig Bescheid. Als eine der wenigen hat sich die Denkfabrik «Avenir Suisse» an eine Folgenabschätzung gemacht. Im «schlimmsten» Fall, also wenn sämtliche EU-Bürger in der Schweiz ihre neuen Rechte geltend machen würden, schätzt «Avenir Suisse» die zusätzlichen Kosten auf 75 Millionen Franken pro Jahr. Zur Einordnung: Die Schweiz gibt jährlich ungefähr 2800 Millionen Franken für Sozialhilfe aus.
Doch mit Prognosen sollte man vorsichtig sein. Vor allem bei der Personenfreizügigkeit, die bekanntlich viel mehr Leute in die Schweiz gebracht hat, als vom Bundesrat damals vorhergesagt.
Man kann sich stattdessen auf einer allgemeinen Ebene fragen, ob die Ängste vor der Unionsbürgerrichtlinie wirklich gerechtfertigt sind. Würde ein erleichterter Zugang an die Schweizer Sozial-Töpfe tatsächlich jene Sogwirkung entfalten, die hunderte oder tausende Menschen aus Europas Armenhäusern wie Bulgarien oder Rumänien Richtung Schweiz aufbrechen liess? Schlussendlich hängt die Antwort auch vom Menschenbild ab, das herangezogen wird. Aber selbst wenn der Mensch ein auf reine Nutzenmaximierung ausgerichtetes Wesen wäre: Lohnt es sich wirklich, seine Heimat zu verlassen, um sich in der Schweiz mit nicht einmal 1000 Franken an Sozialhilfe durchs Leben zu schlagen?
So oder so: Auch in der EU gibt es Regeln um die Einwanderung in die Sozialsysteme zu unterbinden. Wer seinen Lebensmittelpunkt in einen EU-Staat verlegen will, braucht vor allen Dingen einen Job oder dann so viel Geld, um ohne über die Runden zu kommen. Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Urteilen bestätigt, dass mittellose EU-Zuzüger auch unter EU-Recht von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können. Entscheidend ist die nationale Sozialgesetzgebung und im Fall der Schweiz auch die kantonale Um- und Durchsetzung.
Über allem schwebt zudem die Ungewissheit, ob die Schweiz die EU-Richtlinie überhaupt übernehmen müsste. Alt-FDP-Chef Philipp Müller argumentiert, die Schweiz könne die Übernahme einfach verweigern und dafür Ausgleichsmassnahmen gewärtigen, deren Verhältnismässigkeit garantiert sind. Und selbst wenn: Verschiedene Schweizer Europarechtler sind der Meinung, dass höchstens Teile für die Schweiz relevant seien, wie das auch beim EU-Nicht-Mitglied Norwegen der Fall war. Genaugenommen kennt die Schweiz nämlich gar keine Personenfreizügigkeit, sondern bloss die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Und die EU hat schon signalisiert, dass sich über die Details einer Übernahme verhandeln liesse.
Politisch drängt sich die Frage auf, ob der Streit um die Unionsbürgerrichtlinie nur als Projektionsfläche herhalten muss. Haben die Bürgerlichen wirklich solche Angst vor jedem einzelnen Fall möglichen Sozialmissbrauchs, so marginal er auch sein möge? Oder geht es in Wahrheit eher um die Angst vor der SVP, der man nach ihren kürzlichen Schwächeanfällen auf Teufel komm raus kein neues Kampagnensujet verleihen möchte? Ersteres wäre unvernünftig. Letzteres ein Zeichen politischer Kurzsichtigkeit.