ARMUT: Gestrandet im Herzen Europas

In Brüssel steigt die Zahl der Obdachlosen, viele von ihnen sind polnische Staatsangehörige. Die meisten kamen einst als Arbeitsuchende in die belgische Hauptstadt – bis das Leben auf der Strasse ihnen die Perspektiven nahm.

Remo Hess, Brüssel
Drucken
Habseligkeiten eines Obdachlosen in einer Brüsseler Metrostation. Die Zahl der Wohnungslosen in der belgischen Hauptstadt wächst. (Bild: Imago (März 2016))

Habseligkeiten eines Obdachlosen in einer Brüsseler Metrostation. Die Zahl der Wohnungslosen in der belgischen Hauptstadt wächst. (Bild: Imago (März 2016))

Remo Hess, Brüssel

Aus den Lautsprechern an der Brüsseler Place de la Bourse klingt lauschige ­Musik. Die Leute schlendern über den Weihnachtsmarkt, trinken Glühwein, machen Selfies. Die Bettler, die sich mit ihren leeren Kaffeebechern durch die Menschenmassen schieben, fallen kaum mehr jemandem auf. Auch in Brüssel ­gehören Obdachlose zum Stadtbild.

Einige hundert Meter entfernt, am Rande der Place du Jeu de Balle, wo Flohmarkthändler jeden Tag allerlei Nippes feilbieten, sitzt Jan Ratynski. Vor ihm liegt Alexandre Dumas’ «Der Herr vom roten Haus». Der Roman lese sich flüssig und sei unterhaltsam, sagt Ratynski. Für seinen Geschmack sei er aber nicht sozialkritisch genug. Und von Sozialkritik will der 62-jährige Papa Jan, wie er von seinen Freunden seines Alters wegen genannt wird, etwas verstehen: «Ich habe die Universität des Trottoirs absolviert, die einzig wahre sozioökonomische Grundausbildung.»

Mehr als 2000 Menschen leben in Brüssel dauerhaft auf der Strasse

Jan Ratynskis Besitz passt in einen kleinen grünen Rollkoffer und einen Rucksack. All seine Habseligkeiten führt er mit sich – täglich. Seit mehr als zehn Jahren lebt der Pole auf der Strasse. Er ist einer der mehr als 2000 Obdachlosen in der belgischen Hauptstadt, den «sans ­domicile fixe» (SDF). Wobei es nahezu unmöglich ist, die Zahl der SDF genau zu beziffern. Neben den vielen Obdach­losen, die nach der strengen Definition als solche gelten, leben viele Menschen in fast gleichermassen prekären Umständen: Sie pendeln zwischen Notunterkünften, der Strasse, leer stehenden Häusern und dem temporären Unterschlupf bei Bekannten. Eine Zählung der Obdach­losenhilfe kam im März 2017 auf rund 4100 Personen, auf die diese Wohnumstände zutreffen – die Dunkelziffer dürfte allerdings um einiges höher liegen.

Die Zahl der sichtbar obdachlosen Menschen, also jenen in den Strassen, Bahnhöfen und an öffentlichen Plätzen, hat im Jahresvergleich seit 2008 um 72 Prozent zugenommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die steigenden Wohnungsmieten in Belgiens Hauptstadt ­haben dazu beigetragen, aber auch die Sparpolitik der rechtsliberalen Regierung von Premier Charles Michel, von der seit 2014 vor allem der sozialpoli­tische Bereich betroffen ist.

Jeden Tag werden Hilfsbedürftige abgewiesen

In den kalten Wintertagen schläft Jan Ratynski in einer Einrichtung von Samusocial, einem Verein auf öffentlicher Mandatsbasis. Von Mitte November bis Ende April verdoppelt Samusocial in ­Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz die Kapazität seiner Notunterkünfte auf rund 1300 Plätze. Trotzdem müssen ­jeden Tag Personen in Not abgewiesen werden. Priorität haben alleinstehende Frauen sowie Familien, von denen es in den vergangenen Jahren immer mehr gebe, sagt der Mediensprecher von ­Samusocial, Christophe Thielens. Polnische Obdachlose wie Ratynski hätten es demgegenüber schwer. Dies nicht nur, weil sie oft in Gruppen von zehn oder mehr Personen unterwegs seien, sondern auch, weil bei ihnen der Alkohol oft eine prominente Rolle spiele.

«Unter polnischen Obdachlosen ist der Alkoholkonsum mit Abstand am höchsten», sagt Bert de Bock, Strassenarbeiter bei dem gemeinnützigen Verein Diogenes. Begleiterscheinungen wie Mangelernährung, vorzeitige Demenz, Unfälle und Gewaltausbrüche kämen in dieser Community häufig vor. Von den 40 auf der Strasse verstorbenen SDF im vergangenen Jahr seien 16 polni- scher Staatsangehörigkeit gewesen. «Das zeigt, wie sehr diese Gruppe in gesundheitlicher Hinsicht exponiert ist», sagt de Bock. Er kümmert sich ausschliesslich um polnische Obdachlose. Osteuropäer stellen nach den Belgiern die grösste Zahl an SDF in Brüssel.

Die Schicksale seiner Klienten würden sich oft gleichen, sagt de Bock. «Praktisch alle kamen als Arbeitsuchende nach Belgien.» So war es auch bei Jan Ratynski. Mitte der Achtzigerjahre war es ihm gelungen, ein Visum für Westeuropa zu ergattern und den Eisernen Vorhang zu passieren. Nach einem kurzen Aufenthalt in den Niederlanden setzte er sich nach Belgien ab und arbeitete fortan schwarz auf Baustellen, als Gärtner oder Klempner. Das ging bis ins Jahr 2006 gut. Doch dann setzte die Realität dem Lebenskünstler ein jähes Ende, und es trat ein, was Sozialarbeiter oft als Verkettung ungünstiger Umstände bezeichnen. Auch in Ratynskis Fall kam vieles zusammen. «Am Schluss hiess nur immer, ich sei zu alt», sagt er schulter­zuckend. Daneben verweist er auf die grossen Beulen an seinen Handgelenken – am Morgen und bei jedem Wetterwechsel bereite ihm die Arthrose starke Schmerzen.

Quasiillegaler Status trotz EU-Bürgerschaft

Der Grund, weshalb polnische Migranten bei Arbeitslosigkeit mitunter auf der Strasse landen, hat einen Namen: Sozialdumping. Obwohl Polen seit 2004 EU-Mitglied ist und damit auch von der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitiert, gibt es in Belgien viele Polen, die einen quasiillegalen Status haben. Sie sind weder angemeldet noch hinreichend sozialversichert. Gefördert wird das Sozialdumping von der in Belgien florierenden Schattenwirtschaft. Schätzungen gehen von einem Schwarzarbeitsvolumen von 17 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus. Andererseits werden viele polnische Arbeiter von ihrem Arbeitgeber ausgenutzt: Sie werden als Scheinselbstständige beschäftigt oder um den gesetzlich garantierten Mindestlohn betrogen. Verlieren sie ihren Job, haben sie wegen ihres ungeregelten Status kaum Anspruch auf Sozialleistungen. Dazu kommt, dass die meisten Polen auch nach Jahren in Belgien weder Französisch noch Flämisch sprechen und ihre Rechte gar nicht einfordern können – oder von der berüchtigten belgischen Bürokratie überfordert sind.

Diese Zusammenhänge kann auch Piotr Mikolaszek bestätigen. Er ist in Brüssel auf Einladung der belgischen Regierung für die karitative polnische Stiftung Barka tätig. Ziel der Stiftung, die sich durch staatliche Zuschüsse und europäische Fördermittel finanziert, ist es, polnische Staatsangehörige in extremen Sozialsituationen wieder mit ihren Angehörigen in Verbindung zu bringen und sie nach Möglichkeit in ihr Heimatland zurückzuführen. «Viele Polen gehen völlig unvorbereitet ins Ausland. Von ihren Arbeitgebern, oft ihre eigenen Landsleute, werden sie dann über den Tisch gezogen», sagt Mikolaszek. Ein weiteres Problem sei, dass sich viele in der Hoffnung auf einen guten Lohn Geld von Angehörigen liehen. «Klappt es dann nicht und ist das Geld aufgebraucht, schämen sie sich, mit leeren Händen zurückzukehren, und ziehen ein Leben auf der Strasse vor», sagt Mikolaszek. Barka versuche, den Gestrandeten einen Ausweg aus ihrer Situation aufzuzeigen. Sein persönlicher «Trick» bestehe darin, den Menschen «mit Liebe und auf Augenhöhe zu begegnen», so der 57-jährige Mikolaszek. Er kann sich nur allzu gut in die Lage vieler Obdachloser hineinversetzen: Der trockene Alkoholiker hat selbst mehrere Jahre auf der Strasse gelebt.

Obwohl Barka erst seit September dieses Jahres in Brüssel aktiv ist, kann die Organisation bereits Erfolge vorweisen: So wurden schon fünf Personen überzeugt, nach Polen zurückzukehren und in einer der Barka-Einrichtungen, etwa einer ökologisch betriebenen landwirtschaftlichen Kommune, einen betreuten Neustart zu wagen. Strassenarbeiter Bert de Bock zollt Mikolaszek Respekt. Es seien auch einige «recht hoffnungslose Fälle» unter jenen gewesen, bei denen der polnische Sozialarbeiter Erfolge erzielt habe, sagt de Bock.

Für Jan Ratynski alias Papa Jan jedoch, der die Barka-Leute ebenfalls kennt und nach eigenen Angaben durchaus schätzt, ist eine Rückkehr nach Polen keine Option. Er sei nun mal nicht gemacht für ein Leben in der Mitte der Gesellschaft, sagt er.