Athen siedelt Flüchtlinge aufs Festland um

Die überfüllten Auffanglager auf den Ägäis-Inseln sollen entlastet werden. Die Umstände dort sind katastrophal. Oppositionspolitiker werfen der Regierung Unfähigkeit und Intransparenz vor.

Gerd Höhler, Athen
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Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos leben mehr als 8800 Menschen – ausgerichtet ist es auf 3100 Personen. (Bild: Adam Berry/Getty; 20. Mai 2018)

Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos leben mehr als 8800 Menschen – ausgerichtet ist es auf 3100 Personen. (Bild: Adam Berry/Getty; 20. Mai 2018)

Angesichts wachsender internationaler Kritik hat der griechische Migrationsminister Dimitris Vitsas gestern begonnen, das berüchtigte Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos zu entlasten. Rund 100 Bewohner wurden aus dem überfüllten Camp in Unterkünfte auf dem Festland gebracht. Insgesamt will Vitsas 2000 Menschen aus Moria umsiedeln. Das Lager ist für 3100 Personen ausgelegt, beherbergte diese Woche aber mehr als 8800 Menschen.

In dem Camp herrschen katastrophale Verhältnisse, berichten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Fäkalien ergiessen sich aus gebrochenen Abwasserrohren. Zwischen den Zelten und Wohncontainern türmen sich Berge stinkenden Abfalls auf. Es gibt zu wenig Duschen und Toiletten, die medizinische Versorgung ist unzureichend. Ein Drittel der Lagerbewohner sind Kinder. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) berichtete diese Woche, unter den Kindern gebe es vermehrt Panikattacken, Depressionen, Angstzustände, aggressive Gewaltausbrüche und sogar Selbstmordversuche.

Gefahr für die öffentliche Gesundheit

Journalisten dürfen sich inzwischen kein eigenes Bild mehr von den Zuständen machen. Das Migrationsministerium verbietet Medienvertretern den Zutritt. Einen Antrag des Korrespondenten dieser Zeitung für einen Besuch in Moria und ein Gespräch mit den Verwaltern des Camps lehnte das Ministerium diese Woche «wegen Überlastung» ab. Wegen der krassen Missstände in Moria droht die Regionalpräfektin der nördlichen Ägäis mit der Schliessung des Lagers. Das Camp sei eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt, heisst es in dem Beschluss von Christiana Kalogirou. Sie setzt Migrationsminister Vitsas eine Frist bis zum 7. Oktober, die Mängel zu beseitigen. Der Minister wies das Ultimatum zurück: Die Hygienebehörde der Präfektur sei nur «für Restaurants und Cafés» zuständig, so Vitsas.

Auch auf der Insel Samos regt sich Widerstand. Dort hausen über 4000 Menschen in einem Lager, das für 648 Personen ausgelegt ist. Auf Initiative des Bürgermeisters werden jetzt unter der Bevölkerung Unterschriften für eine Schliessung des Lagers gesammelt. Die Zeitung «Kathimerini» machte gestern auf die prekäre Lage tausender unbegleiteter Minderjähriger aufmerksam. Nach Angaben des staatlichen Nationalen Zentrums für soziale Solidarität halten sich 3280 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Griechenland auf. Davon sind nur 1191 in offiziellen Unterkünften untergebracht. Geschätzt 430 Kinder leben auf den Strassen. 138 sind auf Polizeiwachen untergebracht. 280 Kinder sind spurlos verschwunden – man kennt ihr Schicksal nicht. Diese Woche beschäftigte sich das griechische Parlament mit den Zuständen in den Flüchtlingslagern.

Der konservative Oppositionspolitiker Miltiadis Varvitsiotis warf Vitsas «Schwäche, Unfähigkeit und Intransparenz» in der Flüchtlingspolitik vor. Gestern besuchte die sozialdemokratische Oppositionspolitikerin Fofi Gennimata das Lager auf Lesbos. «Moria ist eine Hölle», sagte Gennimata nach der Besichtigung. «Die Regierung hat versagt und aus der Flüchtlingskrise eine humanitäre Krise gemacht». Die Europäische Union hat bisher für Griechenland zur Bewältigung der Flüchtlingskrise rund 1,6 Milliarden Euro bewilligt. Aber in Lagern wie Moria ist das Geld offensichtlich nicht angekommen.

Doppelt so viele Migranten wie ein Jahr zuvor

Mit den Umsiedlungen aufs Festland entlastet die Regierung zwar die Lager auf den Inseln. Zugleich durchlöchert sie aber das 2016 geschlossene Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. Demnach sollen ankommende Flüchtlinge und Migranten so lange auf den Inseln bleiben, bis über ihr Asyl entschieden ist. So soll verhindert werden, dass sie sich vom griechischen Festland über den Balkan oder die Adria nach Nordeuropa absetzen.

Abgelehnte Asylbewerber können in die Türkei zurückgeschickt werden. Migranten, die aufs griechische Festland umgesiedelt werden, muss die Türkei nicht zurücknehmen. Experten befürchten deshalb, dass die Umsiedlungen den Flüchtlingsstrom aus der Türkei verstärken werden. Er schwillt bereits wieder an. Nach Angaben des griechischen Migrationsministeriums kamen im ersten Halbjahr 2018 22936 Flüchtlinge und Migranten über die Ägäis sowie über den griechisch-türkischen Grenzfluss Evros. Das sind mehr als doppelt so viele wie in den ersten sechs Monaten 2017.