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Landesweite Ausschreitungen mit über 100 Toten: Die Lage in Ägypten eskaliert. Daniel Müller von der Hessischen Stiftung Friedens - und Konfliktforschung (HSFK) analysiert die neuesten Entwicklungen am Nil.
Herr Müller, wie ordnen Sie die neuesten Entwicklungen in Ägypten ein?
Zuerst: Ich verfolge wie sie die Nachrichten. Bei derart aktuellen Entwicklungen ist das nicht anders möglich. Ich beobachte mit Sorge die zunehmende Eskalation zwischen der Muslimbruderschaft und der Armee. Was wir momentan sehen, ist eine Verschärfung der Situation, die bis zu einem gewissen Grad nicht überraschend kommt.
Weshalb?
Es war absehbar, dass sobald die Regierung an die Räumung der Protestlager gehen würde, es zu einer Auseinandersetzung kommen würde. Die Intensität ist aber Besorgnis erregend.
Droht Ägypten nun ein Bürgerkrieg?
Mit dem Begriff wäre ich vorsichtig. Ein Bürgerkrieg hätte eine andere Qualität. Ägypten ist nicht mit Syrien zu vergleichen, denn Syrien ist ethnisch und religiös wesentlich fragmentierter als Ägypten: Dass in Ägypten zahlreiche Konfliktlinien quer durch die Gesellschaft aufbrechen, ist daher eher unwahrscheinlich. Was wir im Moment in Ägypten sehen, ist eine Eskalation zwischen den Muslimbrüdern, der Übergangsregierung und den Sicherheitskräften. Ich würde es als gewaltsamen Richtungsstreit definieren: Eine Islamische versus eine säkulare Richtung. Die Leidtragende ist die Bevölkerung.
Liegt nicht gerade in solchen Ereignissen der Nährstoff für eine Fragmentierung?
Die Sorge besteht natürlich. Wenn die Akteure des politischen Islamismus nun von der Bildfläche verdrängt werden, könnten Teile davon den fälschlichen Schluss ziehen, dass Islamismus und Demokratie nicht zusammenpassen. Die Radikalisierung von Teilen dieser Bevölkerungsgruppe wäre die Folge.
Worauf beruht die ägyptische Identität?
Man sieht in der Tat eine arabisch-ägyptisch definierte Identität am Nil. Ganz im Gegensatz etwa zu Syrien, wo die ethnisch-religiösen Grenzen aufgebrochen sind. Das hat man in Ägypten eben nicht. Wie unlängst Volker Perthes festgestellt hat: Die Kräfte, die sich nun in Ägypten gegenüberstehen, sind in der Gesellschaft tief verwurzelt und dieser auch verpflichtet. Deshalb darf man annehmen, dass die jetzigen Vorkommnisse keine breite, innergesellschaftliche Konfrontation hervorrufen.
Welche Auswirkungen hat die ägyptische Entwicklung auf den Nahen Osten?
Ägypten ist mit Sicherheit ein sehr zentraler nahöstlicher Staat. Es gibt Auswirkungen: Auf politischer Ebene einerseits auf solche Staaten, die durch den Arabischen Frühling gegangen sind, andererseits darauf, wie islamistische Parteien in Zukunft ihre Möglichkeiten der demokratischen Partizipation sehen - man darf nicht vergessen, dass Ägypten das Ursprungsland der Muslimbruderschaft ist. Und dann hat die Stabilität des bevölkerungsreichsten und eines der einflussreichsten Staaten der Region natürlich auch direkte Auswirkungen auf die gesamtregionale Stabilität und Sicherheit.
Was sind die Interessen Israels?
Israel beobachtet die Lage in Ägypten besorgt. Wie weit das geht, sehen Sie eventuell schon daran, dass die israelische Regierung ihr Einverständnis erklärt hat, dass Ägypten seine militärische Präsenz auf dem Sinai erhöht, die im Rahmen des Friedensvertrages zwischen den beiden Staaten eigentlich begrenzt ist. Israel will, dass die ägyptische Regierung in der Lage ist, im Sinai für Stabilität und Sicherheit zu sorgen.
Kommen die jüngsten Entwicklungen Israel also entgegen?
Israel schätzt Frieden - wenn es auch nur ein kalter war - an der Grenze zu Ägypten. Die jetzige Übergangsregierung in Ägypten wird von Israel mehr oder weniger explizit begrüsst, im Gegensatz zur vorherigen der Muslimbruderschaft, weil man ihr wohl eher eine Fortsetzung der jahrzehntealten Aussenpolitik gegenüber Israel unterstellt. Ausschlaggebend ist jedoch, dass das Land sich stabilisiert: Instabilität kommt Israel mit Sicherheit nicht entgegen. Israel nützt es sicher nichts, wenn es weiterhin starke Unruhen gäbe in Ägypten.
Ist Ägypten wieder auf dem Weg zurück in eine Militärdiktatur?
Mit solchen Prognosen sollte man sehr vorsichtig sein. Das Militär ist wirtschaftlich und gesellschaftlich sehr stark verwurzelt, hat in der Vergangenheit auch die Politik bestimmt. In der Übergangsphase nach Mubarak haben wir zudem gesehen, dass das Militär Mühe hatte, die Macht abzugeben an die Mursi-Regierung. Viele Stimmen sagen, das Militär hätte etwas gelernt. Gerade auch General al-Sisi gehört zu einer jüngeren Generation. Und man kann hoffen, dass diese Militärs nicht das Ziel verfolgen, auf lange Sicht direkte politische Amtsgewalt auszuüben. Das heisst noch lange nicht, dass das Militär bereit ist, seine wirtschaftlichen und auch politischen Pfründe abzugeben.
Sehen Sie auch Hoffnung für Ägypten?
Ja. Auch wenn es gerade heute äusserst unschön aussieht. Ich hoffe darauf, dass das Militär aus den negativen Erfahrungen gelernt hat, dass es demokratischen Prozessen nicht im Wege stehen soll. Es ist zu hoffen, dass die Übergangsregierung nicht denselben Fehler macht, wie die Muslimbruderschaft, nämlich den Gegner auszuschliessen. In der Übergangsregierung sind äusserst fähige Technokraten vertreten. Das weckt Hoffnung.