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Abreissen oder Totalsanierung für 500 Millionen Euro: Der Zweitsitz des EU-Parlaments in Brüssel ist nach einem Vierteljahrhundert bereits am Ende seiner Lebensdauer angekommen – wegen Baumängeln und Sicherheitsbedenken.
Die EU ist ein unfertiges Gebilde, das gerne auch mit dem Sprachbild «Baustelle Europa» umschrieben wird. Bald schon dürfte sich dieses Bild auch in der Wirklichkeit zeigen. Dann nämlich, wenn im Brüsseler EU-Quartier die Bagger auffahren und sich am Zweitsitz des EU-Parlaments, dem mächtigen Glaspalast am Place de Luxembourg, zu schaffen machen.
Was vor gerade einmal 25 Jahren als EU-Volksvertretung eröffnet wurde, erweist sich heute nämlich als teure Bastelei: Das EU-Parlament ist baufällig. Die Rede ist von undichten Stellen am Dach und von Energieverschleiss. Vor allem aber gibt es Probleme mit der Statik: Der modular konzipierte Bau ist ein Sicherheitsrisiko. Wie eine Untersuchung aus dem Jahr 2017 ergeben hat, droht bei der Beschädigung eines Gebäudeteils, etwa durch einen terroristischen Anschlag, eine Kettenreaktion, die den gesamten Komplex zum Einsturz bringen könnte. «Progressive collapse» heisst das in der Fachsprache.
Das Fazit: Das EU-Parlament muss entweder totalsaniert oder von Grund auf neu gebaut werden. Kostenpunkt zwischen 300 und 500 Millionen Euro.
Der lancierte Architekturwettbewerb hat jetzt fünf Projekte in die engere Auswahl geführt, wie die «Stuttgarter Zeitung» berichtet. Darunter befinden sich je zwei Entwürfe für einen Neubau oder eine Total-Sanierung sowie ein Projekt für eine Mischform zwischen Neubau und Renovation. Wem genau sie ihre Stimme gaben, wussten die Jurymitglieder nicht: Die Projekte wurden streng anonymisiert, damit nicht das passiert, was in der EU oft passiert: Jeder lobbyiert und weibelt für seinen Kandidaten.
Herzstück des Unternehmens wird der neue Plenarsaal für die Tagungen der 750 EU-Parlamentarier sein. Aber auch neue Räume für die Einigungskonferenzen zwischen EU-Parlament, Mitgliedsstaaten und der Kommission bei den Gesetzgebungsvorhaben müssen her, da es von denen es im alten EU-Parlament zu wenige hat. Mit den Bauarbeiten begonnen werden soll im Jahr 2024, spätestens 2029 will man fertig sein.
Dass alles wie geplant ablaufen wird, ist jedoch alles andere als sicher. Es besteht die Gefahr, dass um die Renovation ein politischer Streit entbrennt, der schon lange vor sich hinköchelt. Das Problem: Das EU-Parlament hat im französischen Strassburg bereits einen Sitz, genauer genommen: Seinen Hauptsitz. Jeweils einmal im Monat packt der ganze EU-Tross aus Parlamentariern, Tausenden an Assistenten und Journalisten seine Sachen und fährt für jeweils vier Tage in das 400 Kilometer entfernte Elsass. Der Strassburger Stammsitz ist noch ein Überbleibsel aus der EU-Gründungszeit, als die Standorte der Institutionen im Dreieck Frankreich, Luxemburg und Belgien verteilt wurden. Heute ist der klimaschädliche Wanderzirkus vielen ein Dorn im Auge. Jegliche Versuche, ihn abzuschaffen, wurden aber von Frankreich abgewürgt.
Cette adresse à @EP_President @Europarl_FR est limpide.
— Jean ROTTNER (@JeanROTTNER) November 24, 2020
Pourquoi dépenser plus de 500M€ à Bruxelles ?
Tout est disponible à @strasbourg
👉 Je refuse que @PEStrasbourg devienne un site secondaire et accessoire. pic.twitter.com/zFFAXGRrVO
Manche Strassburg-Fürsprecher fürchten nun, dass die Renovation des Brüsseler Zweitsitz zum Anlass genommen wird, den Widerstand zu brechen. In halbseitigen Zeitungsinseraten warnte Jean Rottner, der Präsident der französischen Region «Grand Est» unlängst davor, die Bedeutung des EU-Parlaments für das Elsass zu unterschätzen. Seine Angst dürfte auch davon genährt sein, dass seit dem Ausbruch der Pandemie vor rund einem Jahr aus Gesundheitsgründen keine Plenarsitzung mehr in Strassburg stattgefunden hat und das Gebäude verwaist. Im Gegensatz zu Brüssel will man sich in Strassburg keinesfalls daran gewöhnen.