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Ob Sebastian Kurz als grosse Integrationsfigur in Europa etwas taugt, wird sich zeigen müssen. Bislang hat er Brücken vor allem in Richtung Osten gebaut, und mit der von ihm konstatierten «Trendwende» in der Migrationsdebatte alleine ist noch nichts gewonnen.
Hoch oben, auf dem Berg Planai in der Nähe des österreichischen Wintersportorts Schladming, hält der bulgarische Premierminister Bojko Borissow dem österreichischen Kanzler Sebastian Kurz ein kleines Europafähnchen entgegen. Die beiden lächeln sich an und geben sich die Hand. Was folgt, ist ein Volksfest mit Tanz und Musik. Denn Kurz hat zusammen mit seiner Regierung gerade den rotierenden EU-Ratsvorsitz angetreten und wird in den nächsten sechs Monaten wesentlich mitbestimmen, wo’s in der Europäischen Union langgehen soll. Das Tagesmotto lautet «Servus Europa!» – Österreich übernimmt.
«Als junger Mensch von 31 Jahren ist die EU für mich so etwas wie eine Selbstverständlichkeit», sagt Kurz drei Tage später im Rondell des Europa-Parlaments in Strassburg bei seiner programmatischen Rede zum EU-Vorsitz. Es ist ein Schlüsselsatz, um sein europapolitisches Denken zu verstehen.
Nicht wegen der Selbstverständlichkeit. Diese kassiert Kurz umgehend wieder ein. Natürlich gelte es für Politiker, das Friedens- und Erfolgsprojekt Europa Tag für Tag hart zu erarbeiten und verteidigen. Das habe er als Aussenminister auf seinen Reisen rund um die Welt schnell verstanden. Vielmehr verdeutlicht der Satz, dass Kurz einer Politikergeneration angehört, die den Zweiten Weltkrieg höchstens noch von den Erzählungen ihrer Grosseltern kennt. Mehr noch: Kurz, geboren im Jahr 1986, wurde kurz nach der Jahrtausendwende und damit lange nach dem Fall des Eisernen Vorhangs politisch sozialisiert. Als 17-Jähriger trat er in einer Zeit der Österreichischen Volkspartei bei, als diese unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel trotz Protesten aus Europa erstmals eine Koalition mit der als rechtsextrem und reaktionär verschrienen FPÖ einging.
Kritiker werfen Kurz Opportunismus und Geschichtsvergessenheit vor. Etwa, wenn er von einer «Achse der Willigen München-Wien-Rom» spricht, ohne dabei die Referenz an den Faschismus im Blick zu halten. In einer positiven Lesart könnte man Kurz’ Ideologieferne jedoch als schlichten Pragmatismus verstehen, der sich den Verkrustungen politischer Milieus entzieht und Politik vor allem als ergebnisorientierten Lieferservice für die Bürger versteht. Vernünftig ist, was rentiert.
Dabei ist der Vergleich mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron gar nicht unangebracht. Ähnlich wie Macron hat Kurz in Österreich das Parteienspektrum aufgesprengt und die konservative Volkspartei ÖVP unter dem Slogan «Zeit für Veränderung» zu seinem Vehikel gegen das politische Establishment umgebaut. Berührungsängste sind ihm fremd, und auch er hat kein Problem, mit der FPÖ unter Vizekanzler Heinz-Christian Strache eine Regierung zu bilden. Er warnt davor, auf Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban oder den italienischen Innenminister Matteo Salvini «herabzublicken», und macht sich zum Fürsprecher derer, die in der Brüsseler Blase der politischen Korrektheit oft als Aussätzige behandelt werden. Der neue US-Botschafter in Deutschland Richard Grenell nennt Kurz voller Bewunderung einen «Rockstar» der Konservativen.
Kurz selbst versteht sich als «Brückenbauer». Er nimmt zwar weitgehend ähnlich harte Positionen wie Orban und Salvini in der Migrationspolitik ein, vermittelt sie auf dem EU-Parkett jedoch in seiner ganz eigenen Geschmeidigkeit und durchaus intelligent. Auf diese Art ist er längst zum Mainstream geworden. Politiker wie der Luxemburger Aussenminister Jean Asselborn, der Kurz in seinem üblichen Anflug von Moralismus einen «Aussengrenzen-Fetischismus» vorwirft, stehen ziemlich alleine da.
«Ein Europa, das schützt», lautet das Leitmotiv des österreichischen Ratsvorsitzes. Es ist ein einfacher Minimalkonsens, den der Euroturbo Macron ebenso unterschreiben kann wie Euro-Skeptiker Orban. Ob Kurz als grosse Integrationsfigur in Europa allerdings etwas taugt, wird sich zeigen müssen. Bislang hat er Brücken vor allem in Richtung Osten gebaut, und mit der von ihm konstatierten «Trendwende» in der Migrationsdebatte alleine ist noch nichts gewonnen. Nun müssen Lösungen gesucht werden, die in der Realität mehr Spaltungs- als tatsächliches Einigungspotenzial freilegen dürften.
In Brüssel ist man denn auch nur begrenzt begeistert vom frischen Wind, den der dynamische Jungkanzler in die Institutionen tragen will. Es wird darauf verwiesen, dass es die Rolle des rotierenden Ratsvorsitzes ist, Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten herbeizuführen und als «ehrlicher Makler» zu agieren. So liess auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Kurz im Anschluss seiner Rede im EU-Parlament spüren, dass er etwas mehr Gemeinsinn statt österreichischen Prioritäten erwarte. Juncker: «Du weisst, dass ich ein grosser Anhänger des Wiener Schnitzels bin. Aber auf den Teller des Hauses gehört nicht nur Wiener Schnitzel.»
Einen Verbündeten finden könnte Kurz allerdings im ständigen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, der eine ähnliche Agenda in Sachen Migration verfolgt. Im Vorfeld des letzten EU-Gipfels warnte Tusk: «Einige mögen meine Vorschläge in Sachen Migration hart finden. Aber glaubt mir: Wenn wir uns nicht darauf einigen, werden wir bald richtig harte Vorschläge von richtig harten Kerlen sehen». Und dann dürfte es über kurz oder lang wirklich heissen: Servus Europa!