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Bulgariens Premierminister Bojko Borissow müsse gehen, fordern die Massen. Der Regierungschef aber hat einen neuen Trumpf auf seiner Seite.
Ein Verkehrspolizist stoppt in Sofia ein Auto mit einem Kennzeichen der Stadt Burgas am Schwarzen Meer. «10 Lewa Strafe», sagt der Polizist zum verdatterten Fahrer. «Warum? Welches Vergehen habe ich denn begangen?», fragt der Autofahrer. «Es ist unmöglich, auf dem Weg von Burgas nach Sofia kein Vergehen zu begehen», antwortet der Polizist.
Nur ein Witz. Aber er trifft das Gefühl von Willkür und Rechtlosigkeit, das die Bulgaren seit genau zwei Wochen jeden Tag zu Tausenden auf die Barrikaden treibt. Sie fordern den Rücktritt des konservativen Ministerpräsidenten Bojko Borissow und die Abdankung von Generalstaatsanwalt Ivan Geschev, den sie für einen Büttel der Oligarchie halten. Angeheizt wurden die Proteste nicht zuletzt von Aufnahmen aus dem Schlafzimmer von Bulgariens Regierungschef, wo sich neben Schusswaffen auch haufenweise Bargeld stapelt. Die Bilder, die in Bulgarien über die Bildschirme flimmerten, passten perfekt zu den Korruptionsvorwürfen, die seit Borissows erneutem Amtsantritt 2017 (von 2009 bis 2013 war er schon einmal Ministerpräsident) immer wieder auftauchen.
Ein Misstrauensvotum im Parlament hat der Premier am Montag überstanden. Und seit Dienstag hat Borissow einen neuen Trumpf in der Hand, mit dem er die Vorwürfe vergessen machen will: Vom Mammutgipfel in Brüssel ist der Regierungschef des ärmsten Landes der EU (Durchschnittseinkommen: 535 Euro pro Monat) als vermeintlicher Sieger zurückgekehrt. Seinen Landsleuten konnte er verkünden, dass die Sieben-Millionen-Nation rund acht Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen erhalten wird. Bei den Verhandlungen war Borissow durch aggressive Kommentare an die Adresse der «Sparsamen Vier» aufgefallen – und durch seine Stümperhaftigkeit. In einer Verhandlungspause machte ihn Bundeskanzlerin Angela Merkel mit gestrecktem Zeigefinger darauf aufmerksam, dass er seine Schutzmaske falsch trage.
In Sofia ertönen die «Mafia!»- und «Ostavka!»(«Rücktritt»)-Rufe entlang der Protestroute quer durch die Hauptstadt derweil noch immer. Die grosse Mehrheit der Aufständischen sind parteiungebundene junge Leute. Sie machen die «Systemparteien» der Sozialisten, Gerberisten, Türken und Nationalisten gemeinsam dafür verantwortlich, dass sich in Bulgarien nach dem Sturz der Kommunisten Ende der 1980er Jahre keine wahre Demokratie etabliert habe.
Das Land, so der Vorwurf, sei bis heute eine Fassadendemokratie, in der korrupte Politiker die Interessen der Oligarchie vertreten, wo Recht ebenso käuflich ist wie Wählerstimmen und wo ein Grossteil der Bevölkerung ohne jegliche Perspektive leben müsse.
Ob die Sowjetunion 1944 Bulgarien befreit oder besetzt habe, hinge davon ab, wie man die Geschichte zu lesen verstehe, hat Bulgariens einstiger Ministerpräsident Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha einmal gesagt. Ob Bojko Borissow, sein einstiger Bodyguard und späterer Nachfolger, in seinen insgesamt drei Amtszeiten seit 2009 das Balkanland entwickelt oder ruiniert hat, hängt wohl ebenfalls davon ab, wie man die Gegenwart interpretiert. «In zehn Jahren haben wir doppelt so viele Autobahnen gebaut wie die Kommunisten in ihrer gesamten Regierungszeit. Wir haben mehr errichtet als alle bisherigen Ministerpräsidenten zusammen. Und während der Pandemie wurden wir als Beispiel in Europa gelobt, weil wir sie am besten bewältigt haben», sagte Borissow kürzlich in einer Ansprache an sein Volk.
Die Demonstranten, die seit zwei Wochen unter dem Fenster seines Dienstsitzes «Mafia raus!» rufen, halten den selbsterklärten Erfolgspolitiker indes für einen gewissenlosen Populisten, der mit Wladimir Putin in Moskau ebenso kungelt wie mit Recep Tayyip Erdogan in Ankara.
Ihrer Ansicht nach ist es Borissows Schuld, dass Bulgarien auf das Prädikat «ärmstes Land der EU» ebenso abonniert ist wie auf die Rote Laterne beim Korruptions-Ranking der Organisation Transparancy International und der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Dort liegt Bulgarien als schlechtplatziertestes Balkanland auf Rang 111 – zwischen Guinea und Nepal.