Vor der zweiten Runde der EU-Austrittsverhandlungen zeigen sich EU-Beamte irritiert über den britischen Verhandlungspartner. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat den Ton gegenüber London verschärft.
Remo Hess, Brüssel
Oft werden die Brexit-Verhandlungen mit dem Bild von zwei aufeinander zurasenden Zügen verglichen. In der vergangenen Woche zeigte sich, dass dieser Vergleich durchaus treffend ist. Etwa dann, wenn Aussenminister Boris Johnson frotzelt, die EU könne «pfeifen gehen» und sich die Geldforderung, die sie aus britischen Verpflichtungen im Rahmen des EU-Budgets herleitet, abschminken. Auf die englische Redewendung, auf die sich Johnson bezogen hatte, angesprochen, meinte EU-Brexit-Verhandler Michel Barnier am Mittwoch: «Ich höre kein Pfeifen. Ich höre bloss das Ticken der Uhr.»
Denn kurz vor dem morgigen Start der zweiten Brexit-Runde wartete Barnier noch immer auf die britischen Positionsbezüge zu den wesentlichen Verhandlungspunkten. Er sei sogar bereit, am französischen Nationalfeiertag zu arbeiten, sagte der aus den savoyischen Bergen stammende Barnier. Immerhin: Am Donnerstag lieferte London und veröffentlichte drei Stellungnahmen, darunter zur nuklearen Zusammenarbeit nach Beendigung des Euratom-Vertrags und zur Frage der EU-Gerichtsbarkeit.
Doch diese Papiere ändern nichts daran, dass man sich in Brüssel im Dunkeln gelassen fühlt über die Richtung der Brexit-Strategie von Premierministerin Theresa May – sofern es überhaupt eine gibt. Nicht wenige in der EU-Kommission zweifeln mittlerweile offen daran. Der Grund liegt in der verfahrenen Situation der britischen Innenpolitik. Es tobt nicht nur ein Richtungsstreit unter Brexit-Hardlinern und Pragmatikern innerhalb Mays Regierungspartei. Die Tories sehen sich zusätzlich von Jeremy Corbyns wiedererstarkten Sozialisten bedrängt. Die Regionalparteien in Schottland und Wales hinter sich zu vereinen, scheint für die Konservativen eine zunehmend schwer zu bewältigende Herausforderung. Grossbritannien verhandelt derzeit vor allem intern über den Brexit und nicht mit der EU. Dass sich Barnier am Donnerstag in Brüssel mit Jeremy Corbyn, der schottischen Premierministerin Nicola Sturgeon und Carwyn Jones, dem Chef der walisischen Regionalregierung, getroffen hat, kann deshalb durchaus als Absicht interpretiert werden, diese Blockade ein Stück weit zu durchbrechen. Über zwei Stunden sollen sich Barnier und Corbyn unterhalten haben.
Ob kommende Woche grosse Übereinkünfte erzielt werden können, darf bezweifelt werden. Bei der Frage der Bürgerrechte, die die EU und Grossbritannien eigentlich schnell abhaken und damit das Terrain für die viel komplizierteren Verhandlungen über die Austrittsrechnung bereiten wollten, gibt es noch immer viel Konfliktpotenzial. Man sei noch nicht zufrieden mit dem britischen Angebot, so Barnier.
Unverändert weit voneinander entfernt liegen die Positionen in der Frage, wer über die Wahrung dieser Rechte walten soll. Die EU beharrt auf der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs. Für London jedoch erlischt die Hoheit des EU-Rechts spätestens mit dem Brexit im März 2019.
Immerhin ein grundsätzliches Eingeständnis, dass die Briten gewisse finanzielle Verbindlichkeiten über den Brexit hinaus mittragen müssten, ist aus einem Regierungsschreiben an britische Parlamentarier herauszulesen, über das die «Financial Times» am Freitag berichtete. Für Barnier ist die Anerkennung dieser Verantwortung «von grösster Wichtigkeit». Dabei gehe es weder um eine «Bestrafung» Grossbritanniens noch um «Lösegeld», sondern schlicht um die Einhaltung von Verpflichtungen, die sich aus dem laufenden EU-Budget ergeben, so Barnier.
Erneut stellte Barnier klar, dass Fortschritte in den strittigen Fragen zu den Bürgerrechten, der Grenze zu Nordirland sowie der Regelung der Konten die Voraussetzung für Verhandlungen über ein künftiges Freihandelsabkommen bildeten.