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In der britischen Politik gewinnen Spekulationen an Fahrt, wonach das Volk erneut über den EU-Austritt abstimmen solle. Auf dem Jahrestreffen der wichtigsten Oppositionspartei Labour in Liverpool soll am Dienstag über die Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum abgestimmt werden.
Die Parteispitze um Jeremy Corbyn signalisierte zwar, sie werde ein entsprechendes Votum respektieren, wünscht sich aber vorrangig Neuwahlen zum Unterhaus. Premierministerin Theresa May hat diese bisher stets ausgeschlossen; Medienberichten zufolge aber gibt es unter Mays engsten Beratern in der Downing Street Planspiele für einen Urnengang im November.
Die Konservative war vergangene Woche in Salzburg mit ihrem Brexit-Plan, dem sogenannten Chequers-Papier, auf unerwartet harten, teils auch undiplomatisch formulierten Widerstand der 27 EU-Staats- und Regierungschefs gestossen. Man befinde sich «in einer Sackgasse», teilte sie am Freitag der Nation mit, woraufhin das Pfund Sterling erheblich absackte. Märkte und Unternehmen befürchten für Ende März einen Chaos-Austritt ohne Vereinbarung mit Brüssel, erste Unternehmen haben bereits Kurzarbeit und Fabrikschliessungen angekündigt.
Am Montag wird sich Mays Kabinett mit den Folgerungen aus dem Salzburger Debakel befassen. Etwa ein halbes Dutzend der EU-kritischen Minister dürfte für einen harten Brexit samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion eintreten und damit der endgültigen Abkehr vom Chequers-Kurs das Wort reden. Der im Juli gefundene Kompromiss sieht einen weichen Brexit vor, in dem London über die bereits vereinbarte Übergangsfrist bis Ende 2020 hinaus engen Assoziationsstatus geniessen würde. Um die Durchlässigkeit der inneririschen Grenze zu garantieren, soll das Vereinigte Königreich in einem Binnenmarkt für Güter verbleiben, will hingegen bei Dienstleistungen eigene Wege gehen. Letzteren Vorschlag lehnt die EU wegen vermeintlicher britischer «Rosinenpickerei» ab.
In Medieninterviews hielt Brexit-Minister Dominic Raab am Sonntag am Chequers-Plan fest; das von Hardlinern geforderte Freihandelsabkommen à la Kanada sei wegen des Sonderstatus von Nordirland keine ausreichende Lösung. Das Gerede über Neuwahlen tat Raab als «Unsinn» ab. Hingegen berichtete die häufig gut informierte «Sunday Times» von entsprechenden Überlegungen im Umkreis der Premierministerin. May selbst rief ihre Partei dazu auf, die Nerven zu behalten: Es sei immer klar gewesen, «dass diese Verhandlungen gegen Ende am härtesten» sein würden.
Labour fordert schon seit Monaten eine Neuwahl zum Unterhaus: Die völlig zerstrittenen Torys könnten das Brexit-Dilemma nicht lösen. Allerdings herrscht unter Politologen Unklarheit darüber, «was denn eine Neuwahl bringen würde», wie Patrick Dunleavy von der London School of Economics (LSE) sagt. Zudem sind Urnengänge in den düsteren Herbst- und Wintermonaten auf der Insel äusserst unbeliebt; zum vorläufig letzten Mal stellte sich der damalige Labour-Premier Harold Wilson im Oktober 1974 dem Land zu einer Herbstwahl, seither wurde stets im Mai oder Juni gewählt.
Dunleavys Kollegin Sara Hobolt rätselt darüber, wie die grossen Parteien in einem etwaigen Wahlkampf inhaltlich mit dem Brexit umgehen wollen. Dass etwa das Labour-Wahlprogramm den EU-Verbleib propagieren würde, «kann ich mir nicht vorstellen», analysiert die Professorin. Eine Lösung könnte höchstens darin bestehen, wie Wilson 1974 dem Wahlvolk eine Neuverhandlung mit der EU und anschliessende Volksabstimmung zu versprechen.
Die Weichen dazu könnte der Labour-Parteitag am Dienstag stellen, Umfragen zufolge wünschen sich 86 Prozent der Mitglieder ein zweites Referendum. Ob dieses den EU-Verbleib ermöglichen solle oder lediglich zwischen unterschiedlich harten Varianten des Austritts zu entscheiden hätte, bleibt in der ohnehin konfusen Debatte meist unklar. Anders als seine überwiegend EU-freundlichen Anhänger bleibt Parteichef Corbyn ein Skeptiker der europäischen Einigung; er spricht häufig davon, man müsse das Austrittsvotum vom Juni 2016 respektieren. Am Sonntag sagte der 69-Jährige aber, er werde sich «widerstrebend» dem Votum der Partei beugen.