Nach starkem Start stagniert das Impfprogramm in England. Ein brutaler Werbespot soll junge Leute zur Immunisierung überreden.
Die Hintergrundmusik bleibt sanft, die Aussagen sind brutal genug. Fit sei sie gewesen, jung und gesund, sagt Ella, 23: «Und dann dachte ich sieben Monate lang, ich würde sterben.» Megan, 25, wird sogar das Haarekämmen zur Last. «Ich bin dauernd erschöpft. Ich könnte eine Woche schlafen, dann wäre ich immer noch müde. Das ist irgendwie das Schlimmste.» Auch Quincy, 31, hielt sich für einen «gesunden jungen Typen», dem eigentlich nichts passieren könne. «Und dann hörten meine Lungen plötzlich auf zu funktionieren.»
Die drei Londoner gehören zur wachsenden Gruppe von Patienten mit monatelangen «Long Covid»-Symptomen. Sie treten in einem neuen TV-Spot auf, mit dem das Nationale Gesundheitssystem NHS junge Leute zur Covid-Impfung bewegen will. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Infektionen mit Sars-CoV-2 sind derzeit in der Altergruppe der 20-29-Jährigen am höchsten, die Inzidenz lag zuletzt bei 671.
Lange betraf die Pandemie beinahe ausschliesslich die sehr Alten. Nun ist jeder fünfte Patient, der wegen schwerer Symptome ins Spital aufgenommen werden muss, unter 35 Jahre alt. «Glaubt bloss nicht, Ihr seid unbesiegbar, weil Ihr jung und sportlich seid und das Richtige esst», appelliert Ella an das Publikum des NHS-Spots. «Das wäre total naiv.»
Die intensive Werbung auf Youtube, Facebook und anderen sozialen Medien hat einen ernsten Hintergrund. So glänzend die Briten schon im vergangenen Dezember mit ihrem Impfprogramm gestartet waren – mittlerweile hinken sie hinter anderen Ländern Westeuropas wie Spanien und Irland her. Das liegt vor allem an der Zögerlichkeit der Jungen. In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen bis 35 Jahre haben sich nicht einmal zwei Drittel den Pieks geben lassen, bei den über 60-Jährigen liegt der Anteil der Geimpften bei mehr als 90 Prozent.
Erst seit wenigen Wochen, mitten in der Hauptferiensaison, sind nun auch Kinder und Jugendliche über 12 Jahre zur Impfung eingeladen. Weil diese von dem Angebot noch kaum Gebrauch machen konnten, haben in der Gesamtbevölkerung von 66 Millionen bisher 70 Prozent wenigstens eine Dosis bekommen. In Irland liegt der Anteil bei 73, in Portugal gar bei 81 Prozent.
Dabei drängt die Zeit. Mitten im Sommer lag die Inzidenz pro 100000 Einwohner in England bei 327. Im Wochen-Durchschnitt landen mehr als 830 Schwererkrankte in den Spitälern, jeden Tag sind 100 Covid-Tote zu beklagen. Zwar vollführte der Trend zuletzt, seitdem das Land alle gesetzlichen Beschränkungen aufgehoben hat, manche Kapriolen. Doch warnen Epidemiologen vor dem Herbst und Winter, wenn das Immunsystem durch das Grippevirus und andere Krankheiten ohnehin stärker belastet ist.
Schon ist von einer Auffrisch-Impfung für Pensionisten die Rede. Erst aber wollen die NHS-Strategen die Jungen zur Immunisierung überreden. Quincy macht dafür Werbung: «Ich habe die Impfung vor mir hergeschoben, als sie mir angeboten wurde. Jetzt wünschte ich, ich hätte gleich zugegriffen.»