BRÜSSEL: Ohrfeige für Viktor Orbán

Ungarn und die Slowakei blitzen mit ihrer Klage gegen die Flüchtlingsverteilung beim Europäischen Gerichtshof ab. Doch der Streit um die Quote ist noch nicht vorbei.

Remo Hess, Brüssel
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Mahnfinger an die Flüchtlingsverweigerer: EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos (64) bei der gestrigen Medienkonferenz in Brüssel. (Bild: Virginia Mayo/AP)

Mahnfinger an die Flüchtlingsverweigerer: EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos (64) bei der gestrigen Medienkonferenz in Brüssel. (Bild: Virginia Mayo/AP)

Remo Hess, Brüssel

Jetzt hat es Viktor Orbán schwarz auf weiss: Die EU-Flüchtlingsverteilung ist rechtens, und auch sein Land muss sich daran beteiligen. Die Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg stellten sich in ihrem gestern veröffentlichten Urteil hinter die EU-Kommission. Weder habe es Verfahrensfehler bei der Beschlussfassung gegeben noch sei die Umverteilung eine inhaltlich verfehlte Massnahme. Im Gegenteil: «Diese Regelung trägt dazu bei, dass Griechenland und Italien die Folgen der Flüchtlingskrise bewältigen können», schreibt der EuGH. Dass bislang weit weniger Personen als geplant umverteilt werden konnten, liege auch «an der mangelnden Kooperation bestimmter Mitgliedstaaten».

Ungarn und seine Mitklägerin, die Slowakei, mussten somit eine krachende Niederlage einstecken. Von einem Sieg will EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos aber nicht sprechen. Dieser Ausdruck existiere im EU-Wortschatz nicht, so der Grieche gestern in Brüssel. Trotzdem sieht sich die EU-Kommission bestätigt, die im Juni lancierten Vertragsverletzungsverfahren gegen die Flüchtlingsverweigerer Ungarn, Polen und Tschechien voranzutreiben (die Slowakei konnte sich mit der Aufnahme von einigen wenigen Flüchtlingen dem Verfahren gerade noch entziehen). Wenn die entsprechenden Regierungen ihre Einstellung nicht ändern würden, werde die Kommission sie vor den EuGH zitieren, so Avramopoulos. Ungarn müsste ein Quorum von 1294 Flüchtlingen übernehmen, Polen 6182, Tschechien 2691. Avramopoulos hielt aber fest, dass es ihm mehr ums Prinzip als um Zahlen gehe: «Alle Staaten sind angehalten, Solidarität zu zeigen.»

Dublin-Reform steckt fest

In Bratislava signalisierte man gestern, das EuGH-Urteil zu akzeptieren. An der Überzeugung, dass die Verteilung in der Praxis nicht funktioniere, ändere sich aber nichts, so der slowakische Regierungssprecher Peter Susko. Der ungarische Aussenminister Peter Szijjarto hingegen sprach von einer «inakzeptablen» und «politischen Entscheidung» des EuGH und kündigte an, dass seine Regierung weiter dagegen kämpfen werde. Wie das geschehen soll, liess er offen. Dabei geht es nicht nur um den Umverteilungsentscheid, sondern auch um die Reform des Dublin-Systems. Der Entwurf der EU-Kommission sieht vor, dass in Zeiten eines ausserordentlichen Migrationsandrangs Länder an der EU-Aussengrenze entlastet werden und mittels eines «Fairness-Mechanismus» Asylsuchende an die restlichen EU-Staaten abgeben können. Wegen der Kontroverse um die Quote steckt die Reform aktuell aber fest. Vom EuGH-Entscheid erhofft sich Avramopoulos zusätzlichen Schub und rechnet mit einem neuen Kompromissvorschlag bis Ende Jahr.

Letzten Endes hat die Debatte um einen permanenten Verteilmechanismus aber auch etwas Hypothetisches, wenn man sich die veränderte Migrationspolitik der EU vor Augen führt: Seit der EU-Türkei-Vereinbarung im März 2016 sind in Griechenland 97 Prozent weniger Migranten angekommen. Die Initiativen Italiens mit lokalen Machthabern in Libyen senkten die Migration über die zentrale Mittelmeerroute zudem in den beiden letzten Monaten auf einen Bruchteil. Dass insgesamt nur etwas mehr als 27000 Menschen aus Italien und Griechenland umverteilt wurden, muss neben einer zögerlichen Bereitschaft der EU-Staaten zwingend auch in diesem Kontext gesehen werden.