BÜRGERKRIEG: «Das hier macht alles keinen Sinn»

Seit fast drei Jahren dauert der Krieg in der Ostukraine nun schon an. Längst ist er zum zermürbenden Alltag für die Soldaten geworden. Ein Augenschein vor Ort.

André Widmer, Awdijiwka/Schachta Butowka
Drucken
Mit einer Kalaschnikow bewaffnet: ein ukrainischer Soldat auf dem Kohleschachtareal Schachtar Butowka bei Awdijiwka. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Mit einer Kalaschnikow bewaffnet: ein ukrainischer Soldat auf dem Kohleschachtareal Schachtar Butowka bei Awdijiwka. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

André Widmer, Awdijiwka/Schachta Butowka

nachrichten@luzernerzeitung.ch.ch

Mal für Mal hat Grek die ukrainische Flagge über dem Areal von Schachta Butowka nahe bei der Stadt Awdijiwka gehisst. Jetzt stapft der Soldat der ukrainischen Armee über das ehemalige Betriebsgelände des Kohleschachts. Der starke Beschuss der prorussischen Separatisten hat die Gebäude arg in Mitleidenschaft gezogen, sogar die Bäume sind zerfetzt. Der Förderturm steht noch, wenn auch stark beschädigt. Das Gelände ist von den Hunderten von Granateinschlägen schwer gezeichnet, von Trümmern übersät. «Das hier macht alles keinen Sinn. Die Terroristen sind auf ukrainischem Territorium. Und unsere Kommandanten geben uns keine Möglichkeit, zurückzuschlagen», sagt Grek. Wie von ihm, so hört man immer wieder von ukrainischen Soldaten die gleichen Erklärungen: Die Separatisten nutzten auch schwere Artillerie und Panzer, während die ukrainische Armee sich lediglich mit Maschinengewehren und Antipanzer-Granatwerfern verteidige. Seit zwei Jahren schon dient Grek in der ukrainischen Armee. Er ist verheiratet, hat drei Kinder im Alter von 5, 8 und 21 Jahren. «Sie rufen jeden Tag an und fragen, wann ich heimkomme. Sie wissen, sie müssen warten», sagt er lapidar. Der 42-Jährige, ursprünglich Geologe von Beruf, ist an den strategisch wichtigen Punkten Schachta Butowka, Zenit und im Industriegebiet der Stadt Awdijiwka im Einsatz.

Awdijiwka: Spätestens seit der mehrtägigen Eskalation Ende Januar ist auch diese Stadt zum Synonym des Krieges in der Ostukraine geworden. Die Stromversorgung hat während Tagen nicht funktioniert, man stand kurz vor einer Evakuation. Das Industriegebiet am südöstlichen Stadtrand ist dabei einer der Hauptschauplätze der Kampfhandlungen. Es liegt nahe der von den Separatisten gehaltenen Verbindungsstrasse Donezk–Horlowka und ist so von strategischer Bedeutung. Der grösste Teil des Industrieareals ist unter Kontrolle der ukrainischen Armee. Nicht weit davon befindet sich die Wasserfilterstation für die Grossregion Donezk mit ihren über einer Million Einwohnern. Nur mit Müh und Not gelang es in den letzten Tagen, für Reparaturarbeiten an der Filterstation die Konfliktparteien zu einer kurzen Waffenpause zu bewegen. Um jeden Meter Geländegewinn und um jede Position wird hier sonst gekämpft. Der Krieg in der Ostukraine ist längst zum Abnützungskampf geworden. Grosse Offensiven hat es zwar seit dem zweiten Abkommen von Minsk im Februar 2015 mit Ausnahme der Kesselschlacht von Debalzewo nicht mehr gegeben. Vielmehr sind es aber punktuelle Schlagabtausche, welche die Soldaten zermürben und die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten nicht zur Ruhe kommen lassen. Die einzigen zählbaren Resultate in den letzten zwei Jahren sind geringfügige Verschiebungen der Frontlinie. Seit Beginn des Krieges zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten aus Donezk sowie Luhansk sind rund 10000 Menschen ums Leben gekommen und gemäss UNHCR rund 1,7 Millionen Personen geflohen.

«Spannungen werden ansteigen»

Alexander Hug, stellvertretender Leiter der OSZE-Spezialmission in der Ukraine, bestätigt im Gespräch mit dieser Zeitung eine höchst instabile Situation entlang der Frontlinie. «Es gibt dafür zwei Hauptgründe. Einerseits sind nach wie vor schwere Waffen vor Ort. Zweitens die Nähe der Positionen. Teilweise liegen sie nur wenige Meter auseinander», so Hug. Vorletzte Woche wurden jeden Tag zwischen 1500 und über 4000 Explosionen gezählt, letzte Woche gingen die Zahlen etwas zurück. Dabei sind es fünf Hauptschauplätze, an denen die meisten Kampfhandlungen stattfinden, so eben auch zwischen Donezk und Awdijiwka. Die Massierung von schweren Waffen an der Front wird bereits seit Ende Dezember beobachtet. «Die Spannungen werden ansteigen», zeigt sich Hug wenig zuversichtlich. Die OSZE selber kann dagegen nichts tun: «Unsere Mission hat zwar abschreckende Wirkung, aber kein friedenserzwingendes Mandat.» Neben der Entflechtung der Truppen an der Front und dem Abzug schwerer Waffen sieht Hug noch einen weiteren Aspekt, der berücksichtigt werden sollte. «Was wichtig wäre, aber nicht passiert: Trotz der Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens wird niemand zur Rechenschaft gezogen», sagt der Schweizer.

Wenige Kilometer entfernt von Schachta Bukowka liegt das frühere Ausflugsrestaurant Zarskaja Ochota. Dieser Ort liegt an der rechten Flanke des umkämpften Industriegebietes von Awdijiwika. Beim mittlerweile zerschossenen Hauptgebäude parkiert ein Last­wagen, am Strassenrand steht ein gepanzertes Fahrzeug. An diesem grauen Märztag kehrt rund ein Dutzend Soldaten von der Front zurück. Die Positionen liegen hinter dem Areal im Gelände – unweit der für die Region wichtigen Verbindungsstrassen. Man blickt in müde, heruntergekämpfte Gesichter. «Man sollte angreifen und das Land bis zur russischen Grenze einnehmen», sagt der 26-jährige Alex. «Ich denke, Russland hat einen Plan. Und wenn sie wirklich möchten, wird sie die Regierung machen lassen», zeigt er sich von der ukrainischen Führung, die ganz offensichtlich militärisch auf den Status quo baut, wenig erbaut. Soldaten, die mit der ukrainischen Regierung hadern – sie findet man immer wieder entlang der Frontlinie. Wenn sie eines tun, dann für ihr Land kämpfen. Aber sicher nicht für ihre Regierung.

Soldaten mit 80 Prozent Scheidungsrate

Abgekämpfte Soldaten. Der Krieg in der Ostukraine läuft bereits seit drei Jahren, und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Krieg ist zum Alltag geworden. Irgendwie und aber doch nicht ganz. Jolanta Bochkarova ist Psychologin, hat in den letzten Jahren viel Zeit mit Soldaten der ukrainischen Armee in den Frontgebieten verbracht. Zuletzt war sie in Muratowe in der Oblast Luhansk stationiert. «Die Soldaten verstehen diese Politik nicht», sagt Bochkarova. Die Soldaten seien patriotisch eingestellt, fühlten sich aber von ihrer Regierung betrogen. Der faktische Stillstand des Konfliktes führe zu Wut und Apathie. «Es gibt keine Motivation unter solchen Umständen», sagt die Psychologin.

Generell lasse sich das Heer der kämpfenden Soldaten in drei Kategorien unterordnen: die Freiwilligen, viele mit Erfahrung aus früheren Kriegen wie in Afghanistan. Dann solche, die den Krieg quasi bereits in sich hätten, keinen richtigen Platz in der Gesellschaft fänden. Und schliesslich diejenigen, die eingezogen würden. «Jene sind meist in einem schlechten psychischen Zustand, denn sie müssen dienen, obwohl sie nicht wollen.» Die Scheidungsrate von Soldaten in der Ukraine liege bei 80 Prozent, sagt Bochkarova. «Ein Mann, der aus dem Krieg zurückkehrt, ist anders. Er muss selber akzeptieren, dass er anders ist. Um wieder zurück ins Leben zu kommen, braucht es Zeit. Und diese lässt sich nicht verkürzen.» Nicht nur der Soldat selber, auch die Familie müsse durch diesen Prozess. Jolanta Bochkarova erklärt, dass die Ukraine im Gegensatz zu kriegserprobteren Ländern wie die USA oder Israel noch über keine speziellen Programme für Soldaten, die von der Front zurückkehren, und über wenige Institutionen verfüge, um ihre Soldaten ins normale Leben zurückzuführen.

Ein SMS vom Gegner

In der «Promzona», dem Industriegebiet Awdijiwkas, hält sich die ukrainische Armee. Weit im Inneren eines Gebäudes ist die Mannschaftsunterkunft. Es ist eng und halbdunkel. Schlafplatz ist an Schlafplatz gereiht, die Kleider zum Trocknen aufgehängt. Im Hintergrund läuft der Fernseher – mit einem russischen Nachrichtenkanal. An einem Herd kocht ein ukrainischer Soldat Bratkartoffeln, in einem Sessel hat sich ein weiterer hingefläzt, trinkt etwas Tee. Die Soldaten hier empfangen regelmässig SMS von der gegnerischen Seite: «ATO-Kämpfer. Dir wird es ergehen wie im Winter den Deutschen in Stalingrad.» Die Ukrainer sind überzeugt: Die Separatisten selber sind allein dazu nicht fähig, da muss russische Technik dahinterstehen. Der ukrainische Kommandant mit dem Nom de guerre «Zloy» (was so viel wie «der Böse» heisst) und Anführer der hier stationierten Einheit, bleibt mit seinen Aussagen sehr widersprüchlich, was die Motivation der Russen sein könnte. «Geopolitik. Ich bin kein Experte. Der Westen verliert hier nichts.»

Ukrainische Soldaten kehren erschöpft von der Front zurück. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Ukrainische Soldaten kehren erschöpft von der Front zurück. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Ein von Artillerie getroffenes Haus in Pesky. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Ein von Artillerie getroffenes Haus in Pesky. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Soldaten in ihrer Unterkunft im Industriegebiet von Awdijiwka. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Soldaten in ihrer Unterkunft im Industriegebiet von Awdijiwka. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Die Bevölkerung wagt sich kaum mehr auf die Strassen – Zivilisten aus Slawne, einem ungenügend versorgten Dorf an der Frontlinie. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)

Die Bevölkerung wagt sich kaum mehr auf die Strassen – Zivilisten aus Slawne, einem ungenügend versorgten Dorf an der Frontlinie. (Bild: André Widmer, Awdijiwka, 15. März 2017)