Nach der ersten Runde der Präsidentenwahl letzten Sonntag ist noch unklar, wer den momentanen Präsident Sebastian Piñera an der Spitze von Chile ablösen wird. Ganz vorne mit dabei ist Gabriel Boric, der schon viele Proteste mitgemacht hat und nun für das linke Bündnis antretet.
Der Vorort Valle Lo Campino im Norden von Chiles Hauptstadt Santiago ist vollgekleistert mit Wahlplakaten. Was auf ihnen steht, ist aber nur schwer zu erkennen. Fast alle Plakate sind entweder zerschnitten, abgerissen oder versprayt. «Politiker haben halt noch immer einen fürchterlichen Ruf», sagt Ayleen González. Die 22-jährige Mutter geht täglich hier im Park mit ihrem Baby spazieren. Das Schicksal der Wahlplakate wundert sie nicht. «Der Ärger von 2019 ist bei den Leuten noch immer nicht verpufft.»
Damals überrollte eine Welle der Gewalt das südamerikanische Land. Die Wut der Menschen richtete sich vor allem gegen das als unfair empfundene Wirtschaftssystem des Landes. Der konservative Präsident Sebastián Piñera stand dem Aufstand erst ungläubig, dann fassungslos und vor allem rat- und hilflos gegenüber. Aber er hielt sich an der Macht – bis jetzt. Ende März läuft sein Mandat aus. Die Zustimmungswerte des Milliardärs lagen zuletzt gerade noch bei 14 Prozent.
Wer Piñera an der Spitze des 19-Millionen-Landes nachfolgen wird, ist wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentenwahl an diesem Sonntag längst nicht mehr nicht klar. Lange Zeit schien es ausgemacht, dass Gabriel Boric die Wahl gewinnt. Der 35-Jährige war über viele Jahre Aktivist, Studentenführer, nahm selbst am Aufstand 2019 teil und tritt nun für das linke Bündnis «Apruebo Dignidad» (etwa «Ich bin für die Würde») an, dem sich auch die Kommunisten angeschlossen haben.
«Boric hat viele Forderungen der Protestierenden von 2019 in sein Programm aufgenommen», sagt Camila Miranda, Direktorin des Thinktanks Fundación Nodo XXI. Ökologie und Energiewende, Gleichstellung und die Grundrechte auf Wohnen, Bildung und Gesundheit und die Re-Verstaatlichung des Rentensystems sind die Pfeiler seiner Kampagne.
Dass es der Sohn kroatischer und katalanischer Einwanderer in der ersten Runde schafft, glaubt kaum jemand. Bei der Stichwahl kurz vor Weihnachten aber dürfte der Jurist als erster linker Staatschef seit Salvador Allende gewählt werden.
Die landesweiten Proteste 2019 waren nur der jüngste Ausbruch der politischen Unruhen, die Chile seit Jahrzehnten begleiten. Auf die sieben Jahre (1964 bis 1970) unter dem gemässigten Präsidenten Eduardo Frei, der das Land mit vorsichtigen Reformen voranzubringen versuchte, folgte der Sozialist Salvador Allende. Der Arzt war der weltweit erste marxistische Politiker, der auf demokratischem Weg ein Regierungsmandat erhielt. Und dies, obwohl vor allem die USA mit aktiver Einmischung versuchten, seine Ernennung zu verhindern.
Allende trieb die Verstaatlichung von Chiles Bodenschätzen und Banken voran, kämpfte erfolgreich gegen die Unterernährung der Kinder im Land (täglich erhielt jedes Kind einen halben Liter Gratis-Milch) und erhöhte die Löhne. Seine Politik trieb allerdings die Inflation stark in die Höhe. Ausländische Geldgeber wandten sich ab. Allende wurde 1973 vom damaligen General Augusto Pinochet gestürzt.
Pinochet, dessen Regentschaft nie demokratisch besiegelt worden war, liess politische Gegner verschwinden, Tausende umbringen und Zehntausende foltern. Seine Schreckensherrschaft endete 1990. Seither befindet sich Chile in einem steten, aber stockenden Demokratisierungsprozess. (sas)
Es wäre die logische Konsequenz nach der Rebellion von 2019, die das Land in seinen Grundfesten erschütterte und zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung geführt hat. In den Diskussionen geht es um das künftige politische Modell, das den Präsidenten entmachten und das Parlament stärken soll. Und um die Stärkung des chilenischen Sozialstaates.
«Studenten sollen sich nicht mehr verschulden für ihre Studien, und Pensionäre brauchen mehr als die umgerechnet rund 200 Franken Mindestrente in einem Land, in dem die Dienstleistungen so teuer sind wie in Europa», sagt Camila Miranda vom Thinktank Fundación Nodo XXI.
Borics härtester Widersacher aber gibt sich noch nicht geschlagen. José Antonio Kast, 55, wurde bis vor kurzem als ultrarechter Spinner ausgelacht, liegt laut Umfragen aber derzeit auf dem zweiten Platz. Der deutschstämmige Politiker und neunfache Vater mit grossen Sympathien für den Diktator Augusto Pinochet liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Boric.
«Kast ist die Hoffnung für alle von Piñera enttäuschten konservativen Chilenen», unterstreicht Jorge Saavedra, der an der britischen Cambridge-Universität zu sozialen Bewegungen forscht. Kasts Hass auf alle Linken und die sozialen Bewegungen ist ebenso offenkundig wie seine Bewunderung für das Militär.
Damit gibt Kast jenen Chilenen eine Stimme, die sich während des sozialen Aufstands und noch danach weggeduckt haben. «Wenn Kast gewählt wird, dann steht dieses Land vor einer neuen Rebellion», sagt Politologin Claudia Heiss von der Universidad de Chile.
Viel hängt davon ab, ob dieses Mal mehr Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. In Chile gehen in der Regel weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne. Ayleen González, die junge Mutter aus Valle Lo Campino, will es auf alle Fälle tun. Es ist ihr erstes Mal.
«Wir müssen endlich Verantwortung für unser Land übernehmen und dürfen das nicht den Politikern überlassen.»