CHILE: Richtungsentscheid im Wahlkampf

Vor der Präsidentschaftswahl am Sonntag geht es im südamerikanischen Vorzeigeland Chile um Grundsatzfragen. Zur Wahl stehen ein sozialdemokratischer Ex-Journalist und ein liberaler Unternehmer. Umfragen prognostizieren ein knappes Ergebnis.

Sandra Weiss, Santiago
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Präsidentschaftskandidaten: Sebastian Pinera (links) und Alejandro Guillier bei einer TV-Debatte. (Bild: Elvis Gonzales/EPA (Santiago, 11. Dezember 2017))

Präsidentschaftskandidaten: Sebastian Pinera (links) und Alejandro Guillier bei einer TV-Debatte. (Bild: Elvis Gonzales/EPA (Santiago, 11. Dezember 2017))

Sandra Weiss, Santiago

«Das Land ist im Rückwärtsgang!», verkündet der rechte Präsidentschaftskandidat Se­bastian Pinera vor seinen Anhängern in einem Mittelschichts­viertel in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Die pessimistische Äusserung kommt überraschend, gilt Chile doch als Hort der Stabilität und des Wirtschaftsliberalismus im krisengeschüttelten Südamerika. Beifall bekommt Pinera vor allem von Unternehmern, Anwälten und Managern, ungeachtet der Tatsache, dass der hemdsärmelige Pinera vor vier Jahren selbst schon einmal Staatschef Chiles war, also eine gewisse Mitverantwortung für den Zustand des Landes trägt.

Unter tosendem Applaus wiederholt der millionenschwere 68-jährige Unternehmer mehrfach seine Kernbotschaft: «Wir stehen vor der Wahl zwischen linksextremem Hass, Arbeits­losigkeit und Kriminalität oder Neuanfang, Fortschritt und Wohlstand.» So verkünden es dieser Tage auch die Medien, die fast alle im Besitz reicher Unternehmerkonglomerate sind. Sie sehen Chile in ein sozialistisches Chaos wie Venezuela abgleiten, sollte die andere Seite gewinnen. Pinera, der in der ersten Runde auf 36 Prozent der Stimmen kam, geht als Favorit in die Stichwahl am kommenden Sonntag.

Ex-Journalist will linke Politik fortführen

Pineras Gegenspieler ist der ehemalige Journalist Alejandro Guillier. Der behäbige Soziologe war zwar nicht der Wunschkandidat der Regierung unter Präsidentin Michelle Bachelet, wird von ihrem Mitte-links-Bündnis Nueva Mayoria aber unterstützt und gilt als Garant der Fortsetzung einer sozialdemokratischen Politik. Aber auf dem bisherigen Senator, der selbst als rechtschaffen gilt, lasten die Fehler der Regierungskoalition: Korruptionsskandale, schlechtes Management, halbherzige Reformen, die viele Erwartungen enttäuscht haben. Wie Pinera gestaltet Guillier seine Kampagne zielgruppenorientiert: Er spricht zu Hausfrauen und Angestellten, zu Studenten und Basisaktivisten, nimmt ihre Vorschläge entgegen und verspricht den Bürgern ein offenes Ohr. Doch es fehlt ihm der energische Impetus Pineras; der 64-jährige Guillier ist eher der nette, ruhige, verständnisvolle Nachbar von nebenan. In der ersten Runde kam er auf 22 Prozent.

Am Ende einer kurzen Rede vor chilenischen Kulturschaffenden unterzeichnet Guillier ein Programm, das «Geist und Materie, Konsum und Bildung» wieder versöhnen will in einem Land, das von der Militärdiktatur in den 80er-Jahren in einen neoliberalen Vorzeigestaat verwandelt und in dem praktisch alles privatisiert wurde, von Renten bis zur Bildung. Mit entsprechenden sozialen Einbussen, gegen die es in den vergangenen Jahren so grosse Proteste gegeben hat wie sonst nirgendwo in Lateinamerika. In dem Land mit seinen 17 Millionen Einwohnern nahmen landesweit bis zu einer Million Demonstranten an Protesten teil gegen den Kommerz mit der Bildung und gegen die Hungerrenten.

Klarer Linksruck im Kongress

Es ist ein Frustpotenzial, das in der ersten Runde der Wahlen vor allem die linke Journalistin Beatriz Sanchez mit ihrem neuen Bündnis Frente Amplio potenzieren konnte. Für die Frente Amplio, der Studenten- und Basisbewegungen angehören sowie Akademiker und Jungpolitiker aus der Provinz, stimmten 20 Prozent der Wähler, vor allem viele junge Chilenen und die gut ausgebildete Mittelschicht. «Das war ein klarer Linksruck, der künftige Kongress wird deutlich sozialdemokratischer sein als der bisherige», sagt Esteban Valenzuela, Politikprofessor in Santiago. Dies sei unter anderem eine Folge der Wahlrechtsreform unter Michelle Bachelet, die das noch aus der Diktatur stammende Mehrheitswahlrecht abschaffte, das die beiden grossen Wahlbündnisse bevorzugte, jedoch die politische Erneuerung blockierte. Die 20 Abgeordneten der Frente Amplio könnten nun künftig im Kongress das Zünglein an der Waage spielen, meint Valenzuela.

Die Kandidatin des Linksbündnisses Sanchez selbst hat verkündet, für Guillier zu stimmen, ihren Wählern die Entscheidung aber freigestellt. Dass die meisten Guillier als «kleineres Übel» wählen dürften, gilt als ausgemacht. Pinera seinerseits hofft auf jene 5 Prozent, die in der ersten Runde auf den deutlich rechts von ihm stehenden Kandidaten José Antonio Kast entfielen.

So gut wie sicher ist ein knappes Ergebnis: Zwei Umfragen haben dieser Tage ein rechnerisches Patt ermittelt. «Es hängt ein wenig von der Enthaltung ab. Ist sie niedrig, spielt das Guillier in die Hände, ist sie hoch, hat Pinera mit seinem grossen Stammwählerpotenzial die Trumpfkarte», sagt die Meinungsforscherin Marta Lagos vom Institut Latinobarómetro. Die Beratungsfirma EIC Data, die mit Modellwahlkreisen und Big Data forscht, sagt einen knappen Sieg von Guillier mit 51,5 Prozent voraus.

In Santiago herrscht trotz der Aussicht auf ein möglicherweise knappes Rennen Gelassenheit. In den Outlets des Mittelschichtsviertels Nunoa drängen sich konsumfreudige Chilenen um die Sonderangebote. Vielen von ihnen scheint es egal, dass am kommenden Sonntag Wahlen stattfinden. Besonders junge Leute finden keinen der beiden älteren Herren besonders attraktiv.

«Ich gehe nicht zur Wahl, die Politiker wirtschaften doch alle nur in die eigenen Taschen», sagt die junge Verkäuferin Cynthia Sanchez. Universitätsprofessor Valenzuela rechnet damit, dass das Regieren schwierig wird, egal wer gewinnt. «Das Land und seine Parteien müssen sich modernisieren, und die Richtung ist von den Bürgern gesetzt worden: Dezentralisierung, mehr Öffnung und Dialog, mehr Sozialdemokratie, weniger Autoritarismus, weniger staatliche Bevormundung in moralischen Fragen wie Homosexualität und Abtreibung.»

Steuerreform bietet grosse Reibungsfläche

Auch fordern die Chilenen mehr Aufrichtigkeit von ihren Politikern. In der ersten Runde sei kein einziger Kandidat, dem Korruption angelastet wird, in den Kongress gewählt worden, sagt Meinungsforscherin Lagos. «Das ist ein Hoffnungsschimmer.» Der eigentliche politische Kampf, das glauben sowohl Valenzuela als auch Lagos, versteckt sich aber hinter der Steuerdebatte. Die Reichen bezahlen in Chile laut der UNO-Wirtschaftskommission Cepal nur 7 Prozent ihrer Einnahmen an Steuern. Laut der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit stammen 41 Prozent des Steueraufkommens von der regressiven Mehrwertsteuer, während Einkommenssteuern nur 9,8 Prozent ausmachen.

Trotz der liberalen Flagge ist Chile eine Volkswirtschaft geblieben, in der grosse Firmenkonglomerate die Marktmacht haben. «Mit Pinera wird sich daran nichts ändern», sagt Lagos. Guillier aber stünde vor dem Problem, den versprochenen und von vielen Chilenen gewünschten Ausbau des Sozialstaates finanzieren zu müssen.