Aubervilliers
Chinesen werden in Paris verfolgt – und gehen nun auf die Strasse

Nach der Ermordung eines chinesischen Näharbeiters gingen Tausende auf die Strasse. Augenschein in «Chinatown».

Stefan Brändle, Paris
Drucken
Franzosen mit Asiatischen Wurzeln gingen zahlreich auf die Strasse.

Franzosen mit Asiatischen Wurzeln gingen zahlreich auf die Strasse.

Keystone

Verlassen liegt die Rue des Ecoles, ein Geruch von Benzin und frischem Brot hängt in der Luft. In dieser Seitenstrasse von Aubervilliers (nördlich von Paris) starb vor einem Monat Chaolin Zhang. Der 49-jährige Schneider in einem der zahllosen chinesischen Nähateliers von Aubervilliers hatte mit einem Freund ein Feierabendbier getrunken und wurde von drei – mittlerweile verhafteten – Kleinkriminellen erschlagen.

Wo sich der Überfall ereignete, will hier niemand wissen. Asiaten machen auf dem Trottoir einen weiten Bogen um Passanten und sagen, bevor man auch nur eine Frage gestellt hat, «je ne sais pas» – ich weiss nicht. Ein Strassenreiniger verweist beim Stichwort «chinois» auf die Fassade eines Kleinunternehmens namens «La Parisienne de Baguettes», aus dem der Brotgeruch stammt. «Das war eine leerstehende Fabrik. Kürzlich wurde sie von einem Chinesen übernommen. Jetzt läuft das Geschäft.» Den Daumen reibend, fügt er an: «Die sind nicht zu beklagen.»

Chaolin Zhang kann sich nicht mehr beklagen. Der vor zwölf Jahren eingewanderte Familienvater kannte die Täter nicht und wurde umgebracht, weil er kein oder zu wenig Bargeld auf sich hatte. «Sein Tod war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte», meint Tamara Lui vom «Verein junger Chinesen». Am Sonntag demonstrierten rund 20 000 Chinesen oder Franzosen asiatischer Abstammung in Paris. Sie zogen zum Bastille-Platz und skandierten «mehr Sicherheit».

«Zhang Chaolin war nach Frankreich gekommen, um ein besseres Leben zu suchen, mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit», rief ein Sprecher auf Chinesisch in die Menge. Einer der beiden Söhne des Ermordeten erzählte, er selbst sei in der Strasse schon viermal attackiert worden. «Zwei Monate nach meiner Ankunft in Frankreich entrissen sie mir mein Handy. Ein anderes Mal verfolgten mich fünf Typen, um mir die zehn Euros zu nehmen, die ich bei mir hatte. Einmal entrissen sie mir meine Jacke, die zum Glück nur eine Markenfälschung war.»

Zuvor hatten fünfzehn Lokalpolitiker asiatischer Abstammung aus dem Raum Paris in einem Zeitungsbeitrag gefragt: «Wer wird der Nächste sein?». Dazu schrieben sie: «Chaolin Zhang ist tot, weil Chinese, Opfer des Irrglaubens, dass ein Chinese reich sei.»

Die Rue des Ecoles liegt allerdings weit weg vom eigentlichen Chinatown von Aubervilliers. Der Weg dorthin führt vorbei an Baumärkten, die auf Französisch wie Chinesisch angeschrieben sind, islamischen Halal-Metzgereien und Bistros mit fast so vielen Nationalitäten wie Kunden. Im Kleidergeschäft Chang Long legt der Inhaber sein Bügeleisen nieder und verfolgt genau die Handbewegungen des Eintretenden. Ja, er sei schon überfallen worden, bestätigt er in mühseligem Französisch. Auf der Polizeiwache habe er dann zuerst einmal zwei Stunden gewartet, bis man ihn auch nur angehört habe.

Ein paar Schritte weiter erzählt ein Textilverkäufer, in Aubervilliers sei es fast so schlimm wie im Zentrum von Paris, wo chinesische Touristen vor dem Louvre oder dem Eiffelturm laufend überfallen würden. Wu stammt wie die meisten Landsleute in Aubervilliers aus dem Grossraum von Wenzhou an der Ostküste Chinas. «Dort konnte ich die Haustür offenlassen, ohne dass etwas wegkam.» Warum er denn nach Frankreich gekommen ist? «Wegen der Freiheit, die in China sehr eingeschränkt ist», meint Wu. «Aber es stimmt, hier zahlt man auch seinen Preis dafür.»