Frustrierte Islamisten rächen sich an der christlichen Minderheit für die erlittene Gewalt. Diese wird damit zum Spielball zwischen Muslimbruderschaft und der Übergangsriegierung.
Die Tore der Sankt-Markus-Kirche in Heliopolis sind verriegelt. In das älteste christliche Gotteshaus des Kairoer Quartiers kommt derzeit niemand hinein, «schon gar keine Journalisten», wie der Wachmann erklärt. «Jedes Wort kann derzeit gegen uns Christen verwendet werden. Deshalb schweigen wir besser», fügt er halb entschuldigend an.
Bei der nur einen Steinwurf entfernten evangelischen Kirche bietet sich dasselbe Bild, ebenso bei der maronitischen und der katholischen Kirche: Abgeriegelte Gelände, Angst in den Gesichtern. Auf mehreren Wänden der Gotteshäuser haben Demonstranten Schmierereien hinterlassen. «Islamisch», steht da, und «Tawadros ist ein Hund» (Papst Tawadros II. ist das derzeitige Oberhaupt der koptischen Kirche). Ein Kirchensekretär, der weder seien Namen noch den seiner Kirche in der Zeitung sehen will, greift zu einem Gleichnis: «Ägypten befindet sich in der Mitte eines Sturms. Es ist besser, wenn wir uns einschliessen, bis der Sturm vorübergezogen ist.»
Geplünderte Geschäfte
In Heliopolis hat das politische Unwetter bislang kaum Schäden hinterlassen. Andernorts hatten die Christen weniger Glück: Nur Stunden, nachdem die Armee den Protest der Muslimbrüder brutal niederschlug, gingen landesweit mindestens 47 Kirchen in Flammen auf, die meisten davon in Oberägypten. Dort ist die Zahl der Christen besonders gross, und religiöse Spannungen an der Tagesordnung. Auch zahlreiche Geschäfte der koptischen Minderheit wurden geplündert und niedergebrannt.
Doppeltes Spiel der Islamisten
In Ägypten wird nun darüber diskutiert, ob die Übergriffe auf die Kopten von langer Hand geplant waren, oder ob es dabei um spontane Angriffe einzelner Islamisten handelt, die ihre Rachegelüste am schwächsten Glied der Gesellschaft ausleben. Fest steht, dass die Führung der Muslimbruderschaft seit Monaten versucht, die Stimmung gegen die Christen aufzuwiegeln. Der Führung der Muslimbruderschaft ist daran gelegen, die politischen Unruhen zu einem Kampf der Religionen hochzustilisieren - und dadurch andere Islamistengruppen im In- und Ausland um sich zu scharen.
Die Bruderschaft verfolgt dabei einmal mehr ihr doppeltes Spiel: Um gegenüber dem Westen ihr Bild einer demokratischen, friedfertigen Organisation aufrecht zu erhalten, predigen ihre Wortführer in ausländischen Medien weiterhin religiösen Dialog und Austausch. Gegenüber der eigenen Anhängerschaft jedoch hetzen dieselben Personen gegen die Kopten, beschimpfen Papst Tawadros II. als Mörder und Putschist.
Gewalt bewusst toleriert?
Die ägyptischen Christen, die zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, stehen traditionell den säkularen Parteien nahe und unterstützten grösstenteils den Armeeputsch gegen Mursi. Von den Militärs erhoffen sie mehr Sicherheit, nachdem sich ihre Situation unter der Islamisten-Regierung dramatisch verschlechtert hatte.
Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Militärs die Gewalt gegen die Christen bewusst tolerieren. Möglicherweise verfolgt die neue Regierung damit die alte Taktik des Ex-Diktators Husni Mubarak: Diesem kamen die Übergriffe auf Christen stets als willkommener Vorwand, um das eigene blutrünstige Vorgehen gegen die Islamisten als «Kampf gegen den Terror» zu rechtfertigen.