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Mehr als 20'000 Menschen haben in Berlin gegen die Coronapolitik demonstriert. Nun wird ein Verbot diskutiert.
Sie lassen sich keinem eindeutigen politischen Spektrum zuordnen, die Teilnehmer des Protestmarsches vom Samstag in Berlin. Unter dem Motto «Tag der Freiheit» proklamierten sie das «Ende der Pandemie». Familien mit Kindern waren da, auffallend viele aus Süddeutschland.
Daneben tanzten Alt-Hippies entrückt und mit nacktem Oberkörper auf der Strasse, andere hielten «Peace»-Flaggen in die Höhe. Es waren Esoteriker dabei, Impfgegner, aber auch Verschwörungstheoretiker und Coronaleugner, welche glauben machen wollen, Bill Gates plane die Minimierung der Weltbevölkerung durch Massenimpfung oder die Bundesregierung nutze die Pandemie, um die Freiheit der Bürger einzuschränken.
Eine Querfront-Bewegung, zu der sich in nicht geringer Zahl auch Teilnehmer aus dem rechtsextremen Milieu angeschlossen haben. Zu sehen waren bei der von 20000 Menschen besuchten Demonstration Reichsflaggen, tätowierte Hakenkreuze und NPD-Funktionäre.
«Merkel muss weg!», riefen einige, «Wir sind die zweite Welle!», skandierten andere. Dass weltweit die Zahl der Ansteckungen und mit ihr die der Coronatoten steigt, scheint den Manifestanten nicht Beweis genug zu sein, dass Covid-19 weit bedrohlicher ist als eine gewöhnliche Grippe.
Inzwischen hat in Deutschland die politische Aufarbeitung der Ereignisse vom Samstag begonnen. Die Teilnehmer scherten sich weder um Hygiene- noch um die Abstandsregeln. Kaum jemand trug einen Mund-Nasen-Schutz. Medienvertreter wurden von Demonstranten angepöbelt und bespuckt.
Die Sorge, dass sich der Protestmarsch vom Samstag gegen die Coronapolitik der Bundesregierung zu einem «Superspreader»-Event mit unkontrollierbaren Folgen entwickelt, ist gross. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schuster stellt Massenkundgebungen dieser Art insgesamt in Frage: «Solche Demonstrationen sind eine Gefahr für die Allgemeinheit.» Er hielte es für besser, Versammlungen in solcher Grössenordnung «nur noch unter sehr viel strengeren Auflagen oder gar nicht mehr zu genehmigen», so der Innenexperte weiter.
Proteste wie am Samstag in Berlin kommen seit den ersten Lockerungen der Coronamassnahmen und der Aufhebung des Kundgebungsverbots im Frühjahr häufiger vor. Hotspots sind Stuttgart, Düsseldorf, immer wieder auch Berlin.
Seit Monaten beobachtet das Land den Versuch von Verschwörungstheoretikern und Extremisten, die Demonstrationen zu kapern. Verschwörungen von angeblichem Impfzwang oder der «Coronalüge» stossen selbst in der Mitte der Gesellschaft auf Gehör.
Der Berliner Protestforscher Simon Teune beobachtet eine steigende Zahl von Menschen in Deutschland, die misstrauisch gegenüber Politik und Medien sind. Zu dieser wachsenden Skepsis hätten auch alternative Medien beigetragen, über die vor allem rechte Akteure versuchten, die Meinungen zu beeinflussen, so Teune.
Rechtsextremisten seien bei den Coronaprotesten in der Unterzahl, dennoch grenze sich das Gros der Bewegung nicht von ihnen ab. Teune: «Offensichtlich ziehen die Menschen bei diesen Protesten die Grenze eher gegenüber denen, die Hygienemassnahmen für sinnvoll halten, als gegenüber den extremen Rechten, die mit ihnen in einer Demonstration laufen.»
Von einem Verbot für Grossdemonstrationen hält Teune indes nichts: «Ein Verbot ist immer die schlechteste Lösung und würde die Erzählung der Demonstranten bloss bestärken, der Staat wolle die Pandemie dazu nutzen, die Freiheit der Bürger einzuschränken.» Besser sei es, künftige Demonstrationen nur noch zuzulassen, wenn etwa Hygieneregeln eingehalten werden. So oder so ist Teune überzeugt, dass die Bewegung ihr Potenzial bereits ausgeschöpft hat.