«Das Straflager ist mein Zuhause»

Geboren im Konzentrationslager, ertrug Shin Dong-hyuk grausame Folter und lieferte seine Mutter an ihre Henker aus. Im Gespräch erklärt er, warum.

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Heute kann er in Freiheit leben - doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los: Shin Dong-hyuk. (Bild: ZVG)

Heute kann er in Freiheit leben - doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los: Shin Dong-hyuk. (Bild: ZVG)

Still, in sich gesunken sitzt er da. Seine Augen huschen umher, rastlos und trotzdem ohne Energie, müde. Er spricht leise, ruhig, emotionslos. Immer wieder rutscht er auf seinem Stuhl hin und her. Sein Körper schmerze, sagte er entschuldigend. Er ist übersät mit Narben, ein Finger fehlt: stumme Erinnerungen an Folter, Prügel und an ein Leben am Rande des Verhungerns. Shin Dong-hyuk ist heute 30 Jahre alt, ein Alter, in welchem junge Menschen zuversichtlich in die Zukunft blicken sollten. Nicht so Shin. Zu schwer scheint die Vergangenheit noch zu wiegen. Fragt man ihn nach seiner Zukunft, ist er ratlos. Seit sieben Jahren ist er dem Grauen des nordkoreanischen Straflagers Nr. 14 entflohen, was zuvor keinem gelang, der im Lager geboren wurde.

Diese Woche erscheint nun das Buch «Flucht aus Lager 14» auf Deutsch. Aus diesem Anlass gewährte uns Shin Dong-hyuk ein Interview.

Shin Dong-hyuk, Sie haben unvorstellbare Qualen ausgehalten. Die meisten Menschen würden wohl alles tun, um nicht immer wieder darüber reden zu müssen. Sie hingegen reisen um den Globus und stellen sich den schrecklichen Erinnerungen immer wieder. Warum tun Sie sich das an?

Shin Dong-hyuk:Ich habe keine Wahl. Seit ich aus dem Straflager entkam, geht es mir physisch immer besser. Ich kann tun und lassen, was immer ich will. Aber jene Menschen, die ich zurückgelassen habe, meinen Vater etwa, sie leiden noch immer unbeschreibliche Qualen, fürchten in jedem Moment um ihr Leben. Ich kann ihnen nur helfen, indem ich rede, immer und immer wieder, damit die Welt sie nicht vergisst.

Wie fühlen Sie sich sieben Jahre nach Ihrer Flucht?

Shin: Heute fühle ich mich elend. Ich bin erkältet und müde.

Fordern die Gespräche über Ihre Vergangenheit ihren Tribut?

Shin: Ja. Es ist jedes Mal wieder sehr schwierig. Ich rede nicht über irgendjemanden, das wäre einfacher. Ich spreche über meine Geschichte, das ist immer schmerzhaft.

Im Lager bestand Ihr Alltag darin, von frühmorgens bis spätnachts Schwerstarbeit zu leisten, und das schon als Kind. Erfüllten Sie die Erwartungen der Wärter nicht, ernteten Sie Schläge oder Schlimmeres. Wie sieht Ihr Alltag heute aus?

Shin: Ich habe in Südkorea eine neue Organisation gegründet. Sie nennt sich «Inside Northkorea». Das Projekt soll der Welt das Leben in Nordkorea vor Augen führen. Und zwar nicht nur jenes in den Straflagern, denn ein Grossteil der Bevölkerung hungert. Wir machen Filme und stellen sie ins Internet.

Es gibt einen kleinen Film, in welchem Sie sich an Ihren Vater wenden und um Versöhnung bitten. Er blieb im Lager zurück. Gehören solche Filme zur Verarbeitung Ihrer Vergangenheit?

Shin: Das Video, welches Sie ansprechen, haben wir für die Vereinten Nationen produziert. Ich wollte damit auf meinen Vater aufmerksam machen. In den Lagern herrscht Sippenhaft, das heisst, für einen Verstoss gegen die Lagerregeln muss jeweils die ganze Familie büssen.

Sie sind geflüchtet. Ein Verstoss gegen Regel Nummer 1. Haben Sie jemals wieder von Ihrem Vater gehört?

Shin: Nein, nie. Ich weiss nicht, was mit ihm geschehen ist.

Sie sind in Freiheit. Haben Sie Zukunftspläne?

Shin: Derzeit mache ich nur eins, ich rede über meine Vergangenheit, um den Menschen in Nordkorea zu helfen. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, was ich im Leben eigentlich noch erreichen oder unternehmen möchte. Diesen Luxus hatte ich noch nie. Ich hoffe aber inständig, dass die Straflager geschlossen werden und alle Nordkoreaner in Freiheit leben können.

Sie sind in Nordkorea geboren, haben einen südkoreanischen Pass und leben teilweise in den USA. Welches ist der Ort, den Sie «Zuhause» nennen?

Shin: Ich habe einen Ort, den ich mein Zuhause nenne: Es ist das Lager Nummer 14. Dort wurde ich geboren und aufgezogen.

In diesem Lager wurden Sie gefoltert. Man hat Sie über einem Feuer aufgehängt, Ihnen Finger abgeschnitten. Haben Sie je daran gedacht, aufzugeben und sich umzubringen?

Shin: Verzweifeln kann nur, wer Hoffnung hatte. Für mich war die Realität das Lager, es gab keine andere Welt, kein Nordkorea. Ich hatte keine Ahnung, dass es nicht überall auf der Welt so ist wie im Straflager. In der Schule lernten wir nichts dergleichen. Auch über die sonst in Nordkorea allgegenwärtige Regierung erfuhren wir Kinder nichts. Man hielt es nicht für nötig. Warum also sollte ich verzweifeln? Es ist eine Tatsache, die ich und auch die anderen, die im Lager aufwuchsen, akzeptierten. Warum sollten wir unser Leben beenden? Vielmehr taten wir alles, um am Leben zu bleiben.

Trotzdem kamen nach 22 Jahren Gedanken an die Flucht. Weswegen?

Shin: Es gab einen Häftling. Eigentlich war ich abgestellt, um ihn zu bespitzeln. Er erzählte mir von der Welt ausserhalb des Stacheldrahtes, von geröstetem Fleisch in China. Er wurde mein Verbündeter.

Was geschah, als Sie feststellten, dass es eine andere Welt gab?

Shin: Ich war geschockt. Alles in mir rebellierte. Ich verstand nicht, dass es Menschen gab, die wählen können, was sie essen wollen oder welche Kleidung sie tragen. Da formte sich der Gedanke, das auch zu wollen.

Empfanden Sie Wut, etwa gegenüber der Bevölkerung Nordkoreas, welche diese Lager toleriert?

Shin: Nein, das habe ich nie empfunden. Die Mehrheit der nordkoreanischen Bevölkerung leidet. Auch sie sind Opfer.

Und trotzdem wehren sich die Menschen nicht gegen die Ungerechtigkeit und die Menschenrechtsverletzungen, wie sie Ihnen widerfahren sind. Warum nicht?

Shin: Diese Frage stellt man mir oft. Erlauben Sie mir eine Gegenfrage: Vor über 65 Jahren wurden Tausende Juden von den Nazis auf grausamste Art ermordet. Warum haben sie sich nicht gewehrt?

Also müsste die internationale Staatengemeinschaft eingreifen?

Shin: Es liegt in der Verantwortung der Weltbevölkerung, der nordkoreanischen Bevölkerung zu helfen. Es bricht mir das Herz, zu wissen, dass in diesem Moment Tausende in Nordkorea ihr Leben im Lager fristen wie Tiere. Alles, was sie gut können, ist sterben. Die Vereinten Nationen wurden nach dem Holocaust gegründet, um genau solche Dinge zu verhindern. Seit der Gründung gab es mehrere neue Beispiele – und die Welt schaut zu.

Kommen wir zurück auf Ihr Schicksal. Ihre Kindheit bestand darin, zu arbeiten. Wenn Sie zurückblicken, was fühlen Sie?

Shin: Wut. Wut darüber, dass ich an diesem Ort geboren wurde. Auch darüber, dass ich es als mein Schicksal angesehen habe, im Lager als Gefangener oder Sklave zu leben.

Sie selbst haben Mithäftlinge geschlagen, um nicht selbst Prügel einzustecken oder um mehr Essen zu bekommen. Als Ihre Mutter und Ihr Bruder die Flucht planten, haben Sie das den Wärtern verraten. Daraufhin hat man beide hingerichtet. Gibt es irgendetwas, was Sie heute anders tun würden?

Shin: Ich habe nie darüber nachgedacht, ich weiss es nicht.

Nach Ihrer Flucht haben Sie zuerst oft gesagt, Sie hätten nichts über die Fluchtpläne der beiden gewusst. Diese Aussage haben Sie nach zwei Jahren revidiert und eingestanden, Sie hätten sie verraten. Dies im Wissen, dass das vielerorts auf Unverständnis stossen würde. Warum haben Sie das in Kauf genommen?

Shin: Ich habe mit der Zeit gelernt, dass die Menschen mir vertrauen, nicht an meinen Äusserungen zweifelten. Ich fühlte mich schlecht dabei, ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Weiter ist mir bewusst geworden, dass genau dieser Teil meiner Geschichte das Ausmass der unmenschlichen Situation in den Straflagern offenbart.

Wer war für Sie die wichtigste Person in Ihrer Kindheit?

Shin: Nachdem ich meine Mutter verraten hatte, wurde ich gefoltert. Die Verletzungen waren so schlimm, dass ich fast daran gestorben wäre. Es gab da einen Mithäftling, der ebenfalls im Gefängnis war. Er pflegte meine Wunden mit der Suppe, die wir zu essen bekamen. Es war das erste Mal, dass ich Freundlichkeit erlebte, dass mir jemand half. Wer er war, habe ich nie herausgefunden, ich nannte ihn Onkel.

Sie haben Folter, Hunger, Todesangst erlebt. Sie haben all dem getrotzt. Wie gehen Sie heute damit um?

Shin: Ich habe kein Rezept, um damit fertigzuwerden oder es zu ertragen. All diese Erinnerungen verfolgen mich, ich träume davon, sie holen mich immer wieder ein.

Interview Léa Wertheimer, Oslo

Wenn Narben als Beweis dienen


Shin Dong-hyuk ist im selben Jahr geboren wie Kim Jong Un, der Staatschef von Nordkorea. Die Postur des «Obersten Führer» zeugt von Luxus und einem Leben im Überfluss. Ein Hohn, denn ganz anders steht es um seinen Altersgenossen: Die Beine und Arme von Shin sind krumm, eine Folge der schweren Arbeit als kleiner Junge. Er ist schmächtig und wirkt älter. Denn das an Horror grenzende Leben hat seine Spuren im Gesicht des jungen Mannes hinterlassen. Shin ist eines von unzähligen Kindern, die in den Straflagern Nordkoreas aufgezogen werden. Shin ist klein gewachsen, vermeidet oft den direkten Augenkontakt. Mit gutem Grund: Als Kind hatte er gelernt, mit gesenktem Haupt vor seinen Wärtern zu knien, ein Blick Auge in Auge wurde bestraft.

Shin Dong-hyuks erste Erinnerung überhaupt gilt einer Hinrichtung im Straflager für die sogenannten politischen Feinde der nordkoreanischen Regierung. «Es ist unmöglich, die genaue Anzahl der Häftlinge in Nordkorea zu beziffern», erklärt Blaine Harden. Der US-amerikanische Journalist hat Stunden mit Shin Dong-hyuk verbracht und schliesslich seine Lebensgeschichte niedergeschrieben. Das Buch mit dem Titel «Flucht aus Lager 14» erscheint in diesen Tagen auch in der Schweiz.

«Der südkoreanische Geheimdienst schätzt, dass es etwa sechs solcher Lager gibt», sagt Harden. Das Lager 14 umfasst eine ganze Region. Nach Schätzungen sind dort 40 000 Menschen eingesperrt. Shin wusste nicht, warum seine Eltern inhaftiert worden waren – auch heute kann er dazu nichts sagen. Die Ehe von Shins Eltern war von den Wärtern arrangiert worden – eine «Belohnungsehe», nach guter Arbeit.

Verrat wird belohnt

Das Lager Nummer 14 ist wegen der besonders brutalen Bedingungen das berüchtigtste. Shin lernt sehr früh, dass er nur eine Chance hat, zu überleben: indem er sich eisern an die Regeln hält. Denn die Aufseher kennen keine Gnade. Sie prügeln, foltern und töten meist willkürlich. Die psychologischen Massnahmen sind perfid: «Shin hat von klein auf gelernt, dass es ihm Vorteile verschafft, wenn er andere Kinder denunziert», erklärt Blaine Harden. Und Vorteile bedeuten ganz nüchtern: etwas mehr zu essen. Loyalität, Vertrauen und Freundschaft seien für den Heranwachsenden nicht einmal leere Worte gewesen, Shin hatte sie schlicht nie gehört. Auch nicht von seiner Mutter. Harden: «Sie schlug ihn mit einer Schaufel, weil er vor Hunger ihre Essensrationen gegessen hatte.»

Als Shin eines Tages nach Hause kam, hörte er, wie sein älterer Bruder und seine Mutter die Flucht planten. Das versetzte ihn in Rage und entsetzliche Angst. Schliesslich stand auf einen Fluchtversuch die Todesstrafe für die gesamte Familie. Er war wütend auf seine Mutter, die sein Leben aufs Spiel setzte. So tat er das, was man ihm jahrelang eingetrichtert hatte: Er verriet die beiden. Blaine Harden bricht eine Lanze für den damals 14-Jährigen: «Er war das, was man aus ihm gemacht hatte und handelte entsprechend.»

Zweifel an der Wahrheit

Die Wärter vermuteten, dass Shin mehr über die Fluchtpläne wusste. Statt ihn für sein Tun zu belohnen, folterten sie den Jungen tagelang. Hängten ihn an Händen und Füssen über einem Feuer auf. Die von Shin geschilderten Szenen sind derart grausam, dass sich auch beim Lesen des Buches Zweifel einschleichen. Unweigerlich stellt man sich die Frage: Stimmen Shins Schilderungen? Kann ein Mensch diesen Horror tatsächlich überleben? Auch Blaine Harden plagten Zweifel: «Die nordkoreanische Regierung dementiert die Existenz der Konzentrationslager.» Er sei zwar mittlerweile ein Freund von Shin Dong-hyuk, trotzdem war Harden besorgt um seinen Ruf als Journalist. Was, wenn Shin es mit der Wahrheit nicht so genau nahm?

«Ich suchte immer wieder nach Beweisen», sagt Harden. Und der wohl schlagendste sei der Körper von Shin gewesen. «Seine Narben belegen haargenau die Schilderungen der Folter.» Sein Rücken sei verbrannt. Ebenso die Schienbeine: Sie zeigen, wo Shin bei seiner Flucht den Hochspannungszaun berührt hat. Ein Körper, der einer Landkarte des Horrors gleicht.

«Auf Satellitenbildern rekonstruierte ich das Lager und den Fluchtweg», fügt Harden an. Wer nicht dort war, könne es unmöglich so detailgetreu wiedergeben. Als letztes Mittel, um die Zweifel zu zerstreuen, beriet sich der amerikanische Journalist mit Verhörspezialisten der CIA und des südkoreanischen Geheimdienstes. Sie hatten Shin Dong-hyuk nach seiner Flucht befragt. Sie kamen zum Schluss, dass er derart gut Bescheid wisse, nie von seinen Beschreibungen abweiche – und das seit nun sieben Jahren. «Mit einer einzigen Aussage», fügt Harden an.

Verrat vertuscht

Als Shin die Flucht aus Lager 14 geglückt war, erzählte er immer wieder, er habe nichts über die Fluchtpläne von Mutter und Bruder gewusst. Die Wachen hätten ihn aus der Schule geholt und ihn gefoltert. Mit keinem Wort erwähnt er in dieser ersten Version der Geschichte seinen Verrat. «Ich glaubte ihm», sagt Harden. Erst nach zwei Jahren, in welchen sich Shin und Harden immer wieder zu Interviews trafen, gestand Shin. «Er schämte sich und sagte, er gehöre zu den Bösen im Lager», erinnert sich der Autor. «Ich war überwältigt.»

Langjähriger Kontakt

Seit nunmehr sieben Jahren steht der Amerikaner in Kontakt mit dem jungen Nordkoreaner und kennt ihn gut. «Er ist unglaublich intelligent», so Harden. Er habe mehrmals versucht, Shin zu einem Studium zu bewegen, doch er könne sich nicht dazu durchringen; er fühle sich unwürdig. Shins grösste Sorge gelte den Häftlingen in den Straflagern. Harden: «Er will die Welt aufrütteln, das zu Tage fördern, was Nordkorea verzweifelt zu verbergen sucht.»

Pulverfass Korea

Immer wieder fragt Shin im Gespräch vorwurfsvoll, warum die internationale Staatengemeinschaft nichts gegen die krassen Menschenrechtsverletzungen unternimmt. Blaine Harden kennt die Region, da er als Korrespondent für die «Washington Post» zahlreiche Artikel über Nordkorea schrieb: «Die ganze Region fürchtet Nordkorea, das bis an die Zähne bewaffnet ist», erklärt er. Man sei auf den Status quo, ein labiles Gleichgewicht, aus. «Ihre Waffen reichen aus, um Seoul dem Erdboden gleichzumachen.» Was geschieht, wenn Nordkorea kollabiert, sei nicht absehbar. Auch Sanktionen der Vereinten Nationen greifen laut Harden zu kurz. Denn wichtigster Handelspartner für das Regime von Staatschef Kim Jong Un sei China, das sich immer wieder über die Erlasse der Vereinten Nationen hinwegsetze. So bleibt Blaine Harden skeptisch: «Auch wenn es sich Shin so sehr wünscht, ich zweifle, dass sich die Situation für die Menschen in Nordkorea in naher Zukunft ändert.»

Léa Wertheimer