Deutschland
Der Osten ist in Deutschland am fremdenfeindlichsten

Nach dem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Sachsen-Anhalt (D) ist die Empörung gross. Der Vorfall von Tröglitz reiht sich ein in eine ganze Serie von Protesten und vereinzelten Übergriffen gegen Flüchtlingsheime in Deutschland.

Christoph Reichmuth, Berlin
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In diesem Haus in Tröglitz hätten demnächst 40 Asylbewerber einziehen sollen. Jetzt ist es unbewohnbar.

In diesem Haus in Tröglitz hätten demnächst 40 Asylbewerber einziehen sollen. Jetzt ist es unbewohnbar.

KEYSTONE

«Die Zahl der Übergriffe steigt im gesamten Bundesgebiet deutlich an. Tröglitz ist überall», warnte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) in der Zeitung «Die Welt».

Der Vorfall von Tröglitz reiht sich ein in eine ganze Serie von Protesten und vereinzelten Übergriffen gegen Flüchtlingsheime in Deutschland. In den vergangenen Wochen wurden zwei weitere fast bezugsbereite Asylunterkünfte attackiert. Immer wieder kommt es zu Protesten gegen die Aufnahme von Asylbewerbern. Die steigende Zahl von Attacken auf Asylunterkünfte schlägt sich deutlich in Zahlen nieder: 2012 zählte die Bundesregierung landesweit noch 24 Übergriffe, 2014 waren es bereits 150.

Gross ist die Abneigung gegenüber Fremden nach wie vor in den ostdeutschen Bundesländern. Laut einer Studie der Universität Leipzig stimmen in Sachsen-Anhalt über 40 Prozent der Menschen fremdenfeindlichen Aussagen zu. In anderen ostdeutschen Bundesländern – und auch in Bayern – liegt die Zustimmungsrate hierzu zwischen 25 und 33 Prozent. In Westdeutschland neigen zirka 20 Prozent der Menschen zu fremdenfeindlichen Tendenzen.

Die Angst vor dem Unbekanntem

In Bundesländern mit einem besonders geringen Ausländeranteil von ungefähr
2 Prozent – etwa in Mecklenburg-Vorpommern oder Thüringen – ist die Zustimmung zu fremdenfeindlichen Aussagen besonders hoch. Vereinfacht gesagt, gilt hier laut dem emeritierten Professor für medizinische Soziologie und Mitherausgeber der Leipziger Studie, Elmar Brähler, der Grundsatz: Was unbekannt ist, davor fürchten sich die Menschen.

Dass fremdenfeindliche Übergriffe zunehmen, liegt laut Brähler unter anderem an der stark wachsenden Zahl von Flüchtlingen in Deutschland. Im letzten Jahr registrierte das Land mehr als 202 000 Asylanträge. Die hohe Zahl ist vergleichbar mit der Situation zu Beginn der 1990er-Jahre, als viele Menschen nach dem Zerfall der Sowjetunion aus den osteuropäischen Staaten in den Westen kamen. «Die hohe Zuwanderungszahl verleitet zum Reflex, den Fremden die Schuld an der eigenen wirtschaftlichen Misere zu geben», sagt Brähler gegenüber der «Nordwestschweiz». Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit bezeichnet der Experte als «beunruhigend».

Der Soziologe macht aber auch die vor allem in Dresden stark gewordene Bewegung «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) respektive den Umgang der Politik mit dieser Organisation für die wachsende Fremdenfeindlichkeit verantwortlich. «Im Umfeld der Pegida wurde versucht, fremden- und islamfeindliche Einstellungen salonfähig zu machen», sagt er und kritisiert, dass Exponenten etablierter Parteien dazu mahnten, die Ängste der Pegida-Anhänger ernst zu nehmen. «Damit fühlen sich Pegida-Anhänger in ihrer ausgrenzenden Haltung bestätigt und äussern ihren Unmut gegenüber Ausländern enthemmter. Ich warne davor, Pegida hoffähig zu machen. Damit werden auch fremdenfeindliche Ressentiments hoffähig gemacht.»

Die «alternative Öffentlichkeit»

Laut dem Dresdner Politikwissenschafter Werner Patzelt ist eine wachsende Politikverdrossenheit für Übergriffe gegen Asylbewerberheime mitverantwortlich. «Die Zahl der Asylanträge steigt gewaltig. Gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl, die Politik schaue tatenlos zu und reagiere nicht darauf. Das animiert einige Wirrköpfe und verbrecherisch gesinnte Leute dazu, das Unrecht in ihre eigenen Hände zu nehmen.» In Deutschland habe sich – nicht zuletzt gefördert durch die Möglichkeiten des Internets – quasi eine «alternative Öffentlichkeit» herangebildet. Davon angesprochen fühlten sich Menschen mit einem Hang dazu, Verschwörungstheorien aufzusitzen. «Sie glauben, Politik und Medien steckten unter einer Decke und würden ihre Anliegen nicht ernst nehmen.» Patzelt geht ferner davon aus, dass der starke Zustrom an Asylbewerbern bei einigen Menschen den Eindruck verstärke, «ausgenutzt zu werden».

In Tröglitz wird noch immer nach den oder dem Täter gesucht. Der Ort war schon im März in die Schlagzeilen geraten, nachdem der parteilose Bürgermeister Markus Nierth wegen des wachsenden Protests gegen die Unterbringung der Flüchtlinge zurückgetreten war. Sowohl Nierth als auch Götz Ulrich, Landrat des Landkreises, werden wegen ihres Einsatzes für die Flüchtlinge anonym bedroht.

Im Mai hätten in der 2700 Einwohner zählenden Ortschaft 40 Asylbewerber in das geplante Heim einziehen sollen. Reiner Haseloff, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hält an der Unterbringung der Flüchtlinge fest: «Wir weichen keinen Schritt zurück», so der CDU-Politiker.

Das Dilemma

In einer ersten Phase sollen nun wenigstens zehn Flüchtlinge in Privatunterkünften untergebracht werden. Weitere sollen nach der Renovation des zerstörten Flüchtlingsheimes nach Tröglitz kommen. Laut dem Politikwissenschafter Patzelt sind die Verantwortlichen in einem Dilemma: «Nimmt Tröglitz die Flüchtlinge nicht auf, droht die Tat in anderen Kommunen Nachahmer zu finden. Können die Asylbewerber trotz des Widerstandes der Bevölkerung kommen, dürften bei den nächsten Wahlen Parteien wie die AfD oder die NPD an Zustimmung gewinnen.»