Ab 2014 gilt für Rumänien und Bulgarien die volle Personenfreizügigkeit. Doch anders als in der Schweiz werden keine Kontingente gefordert – es gibt andere Ideen.
Die deutschen Städte schlagen Alarm. Ab 1. Januar 2014 geniessen Bürgerinnen und Bürger aus Rumänien und Bulgarien die volle Personenfreizügigkeit. Grossstädte wie Hamburg, Berlin, Köln, Duisburg oder Dortmund gehen davon aus, dass aus den beiden Staaten viele von Armut betroffene Personen – darunter überwiegend Roma – nach Deutschland einwandern werden. Diese Personen haben mit der Freizügigkeit auch Anspruch auf Sozialleistungen. Die deutschen Städte rechnen nun mit zusätzlichen Sozialleistungen in Millionenhöhe. Alleine die Stadt Duisburg kalkuliert Mehrausgaben zwischen 15 und 16 Millionen Euro für Sozialleistungen aufgrund der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien. Zahlen auf Bundesebene liegen auf Anfrage beim Arbeitsministerium nicht vor. Ihre Sorge bringen die Städte in einem Positionspapier zum Ausdruck. Das Thema aufgegriffen hat am Wochenende die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» (FAS). Die Zahl der wegen Perspektivenlosigkeit und Armut aus ihrer Heimat nach Deutschland emigrierten Menschen aus Rumänien und Bulgarien ist in den letzten Jahren rasant gestiegen – von 64 000 im Jahr 2007 auf 147 000 im Jahr 2011. Im vorigen Jahr erhöhte sich die «Armutszuwanderung» aus den beiden Staaten abermals um 24 Prozent. Die Zahl dürfte mit der vollen Freizügigkeit noch einmal zunehmen.
Guntram Schneider, Arbeits- und Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, zeigt sich besorgt und nimmt den Bund in die Pflicht. «Wenn nicht endlich gegengesteuert wird, spitzt sich die Situation nach dem 1. Januar 2014 zu», warnt Schneider in der FAS. Allerdings fordert der Sozialdemokrat keine zeitlich befristete Begrenzung der Zuwanderung – so wie derzeit die Schweiz den Zustrom aus den osteuropäischen EU-Ländern mit Hilfe der so genannten Ventilklausel begrenzt. Vielmehr müsse die Bundesregierung bei der EU intervenieren, damit sich die Lebenssituation für die Roma in Bulgarien und Rumänien so stark verbessere, dass die Menschen ihrer Heimat wegen Perspektivenlosigkeit nicht mehr den Rücken kehren müssten.
Nur ungenügend würden die EU-Fördermittel in Rumänien und Bulgarien eingesetzt, die Gelder würden «irgendwo versickern», deshalb sollen künftig aus Deutschland entsendete «Integrationskommissare» in Rumänien und Bulgarien dafür sorgen, dass die EU-Gelder auch in Projekte zur Armutsbekämpfung fliessen. Denn die Lage für die Roma bleibe nach der Emigration in deutsche Grossstädte in der Regel prekär: Wegen oftmals unterdurchschnittlicher Bildung, miserabler Wohnverhältnisse und schlechter Gesundheit hätten die Menschen in Deutschland wenig Perspektiven. Die Gefahr sei gross, dass die Zugewanderten nicht nur in die Sozialhilfe rutschten, sondern dass sie auch in die Kriminalität getrieben würden.
Das könnte auch unter einem anderen Gesichtspunkt delikat sein, warnen Politiker wie Guntram Schneider: Rechtsradikale Gruppierungen könnten gegen arbeitslose und die Sozialkassen belastende Roma rasch Stimmung machen. Wegen der historischen Last aus Zeiten der Nazi-Diktatur soll offene Fremdenfeindlichkeit gegen Roma um jeden Preis vermieden werden. Der Bund allerdings hat kein Gehör für den Hilferuf der Städte. Die Kommunen seien selbst dafür verantwortlich, dass die Menschen nicht in die Abhängigkeit des Sozialstaates gerieten – durch «gezielte Integrationsmassnahmen» wie Ausbildung oder Beratung, betont Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU).
Friedrich nimmt vor allem Rumänien und Bulgarien in die Pflicht. Die beiden Staaten müssten den Schutz für die oftmals diskriminierten Roma erhöhen und diese besser in die Gesellschaft integrieren. «Das Problem muss auch in den Heimatländern angegangen werden. Von daher setzt sich Deutschland dafür ein, EU-Fördermittel in stärkerem Umfang als bisher für die Integration der Betroffenen einzusetzen», so der Innenminister.
Im Bundesarbeitsministerium stossen die Warnungen der Städte gar auf Kritik. «Rumänen und Bulgaren haben auch nach Beginn der vollen Freizügigkeit keinen Anspruch auf Sozialhilfe, wenn sie nicht durch Arbeit ins Sozialsystem einbezahlt haben. Man kann nicht einfach für die Arbeitssuche einreisen und Sozialgelder kassieren», betont eine Sprecherin des Arbeitsministeriums gegenüber unserer Zeitung. Das gelte für alle EU-Bürger. Der Hinweis von Arbeitsminister Schneider, die Zuwanderer fänden zu oftmals miserablen Bedingungen für wenige Monate einen Gelegenheitsjob, wodurch sie Anspruch auf Sozialleistungen geltend machen könnten, weist die Sprecherin zurück: «Wir nehmen auch Stichproben vor. Nur ein paar Wochen zu jobben, um ans Geld zu kommen, das reicht nicht aus.»