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Die Grünen einigen sich im Stillen auf Annalena Baerbock. Der Machtkampf in der Union dagegen könnte ein neues Zeitalter einläuten.
Spannung pur am Montagabend in der Sondersitzung des CDU-Vorstandes in Berlin: Ab 18 Uhr und bis nach Redaktionsschluss debattierte das Spitzengremium der Christdemokraten über die Kanzlerkandidatur ihres Parteichefs Armin Laschet. Der 60-Jährige drängte die Spitzenpolitiker noch am Abend zu einem Entscheid in der Kanzlerfrage: Bleibt der Vorstand bei seinem Votum für Laschet oder schlägt er sich auf die Seite des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU)?
Die Wortmeldungen offenbarten, dass auch der CDU-Vorstand nicht mehr geschlossen hinter der Kandidatur des eigenen Parteichefs steht. Sogar Wirtschaftsminister Peter Altmaier, Vertrauter von Kanzlerin Angela Merkel, rückte von Laschet ab und forderte, das Gremium dürfe bei seinem Entscheid nicht die Stimmung in der Basis übergehen – denn dort sympathisieren die meisten für CSU-Chef Söder. «Wenn wir in die Basis reinhören», sagte Altmaier, «ist es anders ausgegangen, als wir vielleicht dachten.» Der Bundesvorstand dürfe «nicht das Gegenteil» beschliessen, was der Basis am Herzen liege.
Ob der CDU-Vorstand eine Entscheidung getroffen hat, war am späten Abend völlig offen. Mit der hitzigen Debatte des Gremiums endete ein denkwürdiger Tag, den die Grünen mit der Verkündung ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock eröffnet hatten. Die 40-jährige Völkerrechtlerin wird für die erstarkte Ökopartei das Kanzleramt ins Visier nehmen - der Grünen-Co-Chef Robert Habeck liess der seit 2013 im Bundestag sitzenden Baerbock den Vortritt. «Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieses Land einen Neuanfang braucht», sagte sie.
Der Machtkampf in der Union dagegen dauert schon über eine Woche. Der Druck auf CDU-Chef Laschet ist in den letzten Tagen massiv gestiegen, in der Fraktion mehren sich die Stimmen, die lieber auf den bayerischen Umfragekönig Markus Söder setzen würden. Jüngste Meinungsumfragen von diesem Wochenende geben Söder weiter Auftrieb: Könnten die Deutschen ihren Kanzler direkt wählen, würden sich 40 Prozent für Markus Söder entscheiden, lediglich aber 19 Prozent für Armin Laschet.
Umfragen sind volatil, in Deutschland deutlich stärker als in der Schweiz. Auch der Söder-Zuspruch könnte – sollte er kandidieren – einen Dämpfer erfahren. Söder könnten in einem Wahlkampf seine politischen Kapriolen medial um die Ohren fliegen. So versuchte er im Landtagswahlkampf 2018 etwa, die AfD in Bayern durch populistische Rhetorik rechts zu überholen. Söder war damals der deutschlandweit unbeliebteste Ministerpräsident, seine CSU sackte bei den Wahlen ab.
Nun bringt sich Söder als der sanfte «Merkel-Freund» und Öko-Bayer, der mit den Grünen regieren könnte, in Stellung. Setzt er seine Kandidatur gegen den Willen des CDU-Vorstandes durch, hat Söder im Wahlkampf nicht die geschlossene CDU hinter sich. Der christlich geprägte CDU-Chef Laschet wirkt dagegen inhaltlich verlässlicher, dafür aber weniger kantig, was ihn eher als langweilig erscheinen lässt.
Gegen Laschet spricht – bei jenen, die Merkels Politik nach 16 Jahren überdrüssig geworden sind – dass ihm attestiert wird, für den Fortbestand der Merkel-Politik zu stehen. Wenn Söder Laschet aussticht, wird es für Laschet zudem schwer, sich an der CDU-Spitze zu halten.
Was Söder antreibt, kann nur vermutet werden. Er scheint gewillt, die über Jahre verkrusteten Strukturen bei der letzten deutschen Volkspartei aufzulösen. Nicht mehr ein Gremium von Etablierten soll die Geschicke einer Partei leiten, sondern die Stimmung der Basis soll ausschlaggebend sein. Der populäre Söder wirft sein gesamtes Umfragegewicht in die Waagschale, weil er weiss, dass Wahlen heute durch starke Personen entschieden werden.
Die Zeiten klassischer Volksparteien, die an Wahlen 40 Prozent holen, sind auch in Deutschland vorüber. Söder scheint die Zukunft der Union in einer auf Personen fixierten politischen Bewegungen zu sehen – so, wie es in Österreich Sebastian Kurz oder in Frankreich Emmanuel Macron vorgemacht haben.
Selbst, wenn Laschet den Kopf noch mal aus der Schlinge ziehen und die Union als Kandidat vertreten sollte: das Söder-Störfeuer der letzten Woche könnte Vorbote sein für einen Prozess, der auf die Union noch zukommen wird. «Söder stellt das gesamte Modell der Volkspartei und ihrer Gremienorganisation fundamental infrage, so wie es in der Union noch nie geschehen ist», stellt der Historiker Andreas Rödder – selbst Mitglied der CDU – in der «NZZ» fest. Da dies auf eine inhaltlich entkernte Partei treffe, lege er die Axt an die Wurzeln der Volkspartei, wie man sie bisher kannte.