DEUTSCHLAND: «Die Etablierten brauchen einen Denkzettel»

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor zwei Jahren gab Kanzlerin Angela Merkel die Devise «Wir schaffen das» aus. Im Wahlkampf findet das Thema kaum statt. Hat es das Land geschafft? Ein Besuch im thüringischen Schlotheim.

Christoph Reichmuth, Schlotheim
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Interessierte Zuschauer in Düsseldorf verfolgen das Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Herausforderer Martin Schulz. (Bild: Maja Hitij/Getty (Düsseldorf, 3. September 2017))

Interessierte Zuschauer in Düsseldorf verfolgen das Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Herausforderer Martin Schulz. (Bild: Maja Hitij/Getty (Düsseldorf, 3. September 2017))

Christoph Reichmuth, Schlotheim

Horst Schäfer hat sich an der Bahnhofstrasse vor ein Café gesetzt. Jeder, der hier vorbeiläuft, grüsst den 63-Jährigen freundlich, jedem Auto winkt Schäfer hinterher. Bis vor kurzem kannte der gebürtige Schlotheimer jeden in seiner Gemeinde mit Vor- und Nachnamen. Doch seit 2015 gibt es Menschen hier, von denen Schäfer keine Ahnung hat. «70 Prozent werden hier die AfD wählen, da können Sie sicher sein», prognostiziert der Rentner. Sabine Wendrich geht zufällig am Café vorbei, die beiden kommen miteinander ins Gespräch. Es geht, wie so oft in den letzten Monaten, um die Bewohner in den Blöcken in Obermehler, einige hundert Meter die Hauptstrasse hoch, direkt vor den Toren Schlotheims. «Ohne Pfefferspray», sagt die 48-Jährige, «gehe ich als Frau hier abends nicht mehr auf die Strasse.»

In Schlotheim, einer verschlafenen Kleinstadt im thüringischen Unstrut-Hainich-Kreis, 50 Autofahrtminuten von Erfurt entfernt, geht ein Riss durch die Bevölkerung. Seit 2015 leben 600 Asylsuchende aus aller Welt in einer Häuserüberbauung gleich am Stadtrand. Zeitweise waren es noch 200 Flüchtlinge mehr. 700 Schutzsuchende auf 3600 Einwohner: Der Gedanke überfordert viele in der kleinen Stadt.

Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit

Schlotheim ist eine verschuldete Gemeinde, die Gegend strukturschwach mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit und seit der Wende 1990 chronisch schrumpfender Bevölkerung. Geld für Infrastrukturprojekte stand hier jahrelang nicht zur Verfügung, Ausländer lebten in dem Ort so gut wie keine.

Nun sanieren sie im Ortsteil Obermehler für viel Geld Wohnhäuser für Flüchtlinge, in den örtlichen Netto-Markt kommen Grossfamilien zum Einkauf, die anders sind als die Schlotheimer. Frauen mit Kopftüchern, Männer mit dunklem Teint, junge Burschen, die eine Sprache sprechen, die hier keiner versteht. 890000 Flüchtlinge nahm Deutschland im Jahr 2015 auf, 2016 kamen weitere 280000 hinzu. Und auch in diesem Jahr suchten weitere Geflüchtete Schutz in Deutschland. Die Flüchtlingskrise hat das Land vor eine grosse Herausforderung gestellt. Doch die Flüchtlinge sind im aktuellen Bundestagswahlkampf nur am Rande ein Thema. Dabei steht das Land vor einer Mammutaufgabe. Noch vor zwei Jahren jubelte die Industrie über den Zuzug sehnlichst gesuchter Facharbeiter aus aller Welt. Die nackten Zahlen zeigen, dass heute nur jeder Zehnte, der 2015 nach Deutschland gekommen ist, einen Job hat. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet damit, dass bis 2020 die Hälfte der Geflüchteten in Arbeit sein werde.

«Die Bevölkerung ist gespalten»

Frank Freudenberg, evangelischer Pfarrer der Kleinstadt, sitzt in seinem kleinen Büro im Pfarrhaus und stapelt Werbe­flyer für den Schlotheimer Stadtlauf vom 9. September. Die will er später in der Asylbewerber-Siedlung vorbeibringen. Er hofft, dass möglichst viele der Schutzsuchenden teilnehmen, damit es ein Miteinander von Flüchtlingen und Einheimischen beim Sportanlass gibt.

«Ja, die Bevölkerung ist gespalten, seitdem die Flüchtlinge hier sind», sagt der 43-Jährige. Was ihm Sorgen bereitet, sind vor allem die Gerüchte. Da werden teilweise harte Fakten mit Fantasien vermischt, heraus kommen Halbwahrheiten, die das Klima in Schlotheim zu vergiften drohen. Geschichten von gewalttätigen Flüchtlingen, von Übergriffen gegen Frauen, versuchten Vergewaltigungen. Freudenberg beschreibt die Situation differenziert, er weiss, dass der enorme Zuzug vielen Menschen Angst macht, dass 600, gar 800 Flüchtlinge für eine Stadt mit 3600 Einwohnern zu viele sind.

Riesige Kluft zwischen Politik und Bevölkerung

«Merkel traf 2015 die richtige Entscheidung. Aber man muss klar sehen, dass der Zuzug all dieser Menschen zu Problemen in den Kommunen geführt hat», sagt der gebürtige Sachse. «Lamentieren hilft nicht weiter. Die Menschen sind hier, und wir müssen das Beste daraus machen», sagt Freudenberg.

Was deutlich wird in Schlotheim: Die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung scheint hier riesengross. Es ist möglicherweise sinnbildlich für das ganze Land, sicher aber für die neuen Bundesländer im Osten. Der Schlotheimer SPD-Stadtrat Holger Koch ist wütend, dass die Landespolitiker über die Köpfe der Menschen hinweg angeordnet haben, dass in Schlotheim alle Asylsuchenden zentral untergebracht werden. Koch bittet in sein hübsches Einfamilienhaus am Rande Schlotheims, zum Gespräch hat er argumentative Verstärkung mitgebracht.

Sebastian Wäldrich, 38, parteiloser Stadtrat und weit herum bekannter Schlotheimer Zahnarzt, grüsst mit festem Händedruck. Beide sitzen sie in einem Bürgerbündnis, das sich laut Broschüre «für eine verträgliche Anzahl an Menschen» im Asylzentrum einsetzt. «Man hätte die Asylsuchenden im Landkreis verteilen können», sagt Koch. «Heute erkennen wir Parallelen zum DDR-Regime. Auch damals wurde über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden, seine Meinung durfte man nicht kritisch äussern. Heute ist es leider nicht anders als damals», so der Stadtrat. Kollege Wäldrich fügt hinzu: «Wer sich über die Zustände im Asylzentrum mokiert, wird als Nazi beschimpft. Es gibt Denkverbote.»

«Lasse mir den Mund nicht verbieten»

Beide machen für diese Stimmung im Land auch die Bundesregierung verantwortlich. Koch meint: «Die Etablierten brauchen am 24. September einen Denkzettel, sonst wursteln sie weiter wie bisher.» Die beiden reden über gestiegene Kriminalität, Frauen, die belästigt würden, Diebstähle im Supermarkt, Schlägereien, fast täglich ausrückende Polizeibeamte in Vollmontur. Bilder, wie man sie in Schlotheim bis 2015 nur aus Filmen gekannt hat. «Ich lasse mir nicht den Mund verbieten und spreche diesen Umstand an», sagt Koch.

Die Landespolizei bestätigt, dass es wegen der Flüchtlinge vermehrt zu Einsätzen gekommen ist, ein Trend, der auch auf Bundesebene zu verzeichnen ist. Nach offiziellen Darstellungen handelt es sich dabei vor allem um Auseinandersetzungen unter den Flüchtlingen selbst. Polizei in Vollmontur, ja, das gäbe es, räumt auch der Landrat des Unstrut-Hainich-Kreises, Harald Zanker, ein. «Wenn es zu Abschiebungen kommt, fährt die Polizei bisweilen mit vier Einsatzwagen vor. Das wirkt auf viele Menschen hier bedrohlich.»

Er könne den Unmut einiger Schlotheimer in Teilen nachvollziehen, sagt Landrat Zanker, aber die zentrale Unterbringung der Menschen in bestehenden Wohnblöcken sei die bestmögliche Lösung gewesen. «Ansonsten hätten wir Turnhallen und Schulen für die Flüchtlinge freigeben und Containerdörfer aufstellen müssen.»

Zanker glaubt, dass das Unbehagen vieler Menschen hier in der Gegend gegenüber den Flüchtlingen auch historische Gründe hat: «In der DDR haben wir nicht die Erfahrungen gemacht mit Ausländern wie der Westen. Dann wurden wir von den Ereignissen von 2015 überwältigt.» Die Skepsis gegenüber der Politik in Berlin habe in den vergangenen Jahren zugenommen. Das beobachtet auch Zanker. «Viele suchen daher leider Lösungen bei jenen, die die einfachen Antworten auf die Probleme liefern», glaubt er.

Es ist später Nachmittag an diesem Donnerstag. Ein paar Schlotheimer haben am Stadtrand ein Begegnungscafé für eingerichtet, in dem sich Flüchtlinge und alteingesessene Stadtbewohner kennen lernen können. Dem Abbau von Vorurteilen soll die Einrichtung dienen. Doch mit Ausnahme der deutschen Helfer haben sich hier nur Menschen aus Eritrea, Syrien und Afghanistan eingefunden. Sie spielen Karten und Tischfussball, nebenan unterstützen engagierte Schlotheimer junge Geflüchtete bei Integrationsfragen.

«Hier sehe ich meine Zukunft»

Alfons Burhenne unterrichtet Binam, 20, aus Eritrea in Deutsch. Auch Suleiman, ein junger Mann aus Syrien, hilft dem Eritreer beim Übersetzen. Seit zwei Jahren lebt der heute 21-jährige Syrer in Schlotheim. Er hat eine lange Flucht hinter sich, im Herbst 2015 sass er, wie viele Tausende anderer Syrer, in Ungarn fest. Eltern und Geschwister hat er zurückgelassen, weil das Geld der Familie nur für seine Flucht gereicht hat.

Suleiman befindet sich in Sachen Integration auf gutem Wege, seit wenigen Wochen hat er in Schlotheim eine eigene Wohnung, seit einiger Zeit arbeitet er als Pflegeassistent im Krankenhaus. Nächstes Jahr beginnt seine Ausbildung zum Krankenpfleger. Der stolze junge Mann spricht sehr gut Deutsch, er sagt: «Hier sehe ich meine Zukunft.» Er weiss, dass viele in Schlotheim skeptisch sind gegenüber den Flüchtlingen. Verübeln tut er ihnen das nicht. Zu dankbar ist er für die Hilfe, die er in Deutschland erfahren hat. «Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, hätte Deutschland mir nicht geholfen.»

Oben links: der Schlotheimer Pfarrer Frank Freudenberg, unten links: Flüchtlingsfamilie im Asylzentrum am Ortsrand, rechts: Blick ins thüringische Schlotheim. (Bild: Christoph Reichmuth (31. August 2017))

Oben links: der Schlotheimer Pfarrer Frank Freudenberg, unten links: Flüchtlingsfamilie im Asylzentrum am Ortsrand, rechts: Blick ins thüringische Schlotheim. (Bild: Christoph Reichmuth (31. August 2017))

Oben links: der Schlotheimer Pfarrer Frank Freudenberg, unten links: Flüchtlingsfamilie im Asylzentrum am Ortsrand, rechts: Blick ins thüringische Schlotheim. (Bild: Christoph Reichmuth (31. August 2017))

Oben links: der Schlotheimer Pfarrer Frank Freudenberg, unten links: Flüchtlingsfamilie im Asylzentrum am Ortsrand, rechts: Blick ins thüringische Schlotheim. (Bild: Christoph Reichmuth (31. August 2017))

Oben links: der Schlotheimer Pfarrer Frank Freudenberg, unten links: Flüchtlingsfamilie im Asylzentrum am Ortsrand, rechts: Blick ins thüringische Schlotheim. (Bild: Christoph Reichmuth (31. August 2017))

Oben links: der Schlotheimer Pfarrer Frank Freudenberg, unten links: Flüchtlingsfamilie im Asylzentrum am Ortsrand, rechts: Blick ins thüringische Schlotheim. (Bild: Christoph Reichmuth (31. August 2017))