Sie verabschiedete sich kurz nach der Jahrhundertflut im letzten Sommer in die Frankreich-Ferien. Familienministerin Anne Spiegel versuchte noch am Sonntag, sich mit einem verstörenden Auftritt im Amt zu halten. Doch ihre schonungslose Offenlegung bis tief ins Private weckte bloss noch mehr Zweifel an ihrer Eignung als Ministerin. Nun tritt sie zurück.
Die deutsche Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hat am Montag ihren Rücktritt erklärt. «Ich tue dies, um Schaden vom Amt abzuwenden, das vor grossen politischen Herausforderungen steht», sagte sie. Sie habe sich «aufgrund des politischen Drucks» zu dem Schritt entschlossen.
Tatsächlich war der Druck, der auf ihr lastete, in den letzten Wochen enorm – seit diesem Sonntagabend aber war die 41-jährige Grünen-Politikerin für das Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nicht mehr tragbar. In einem für 21 Uhr angesetzten Pressestatement bat Spiegel in einer irritierenden, rund sieben Minuten dauernden Ansprache um Entschuldigung für ihre Fehler als Krisenmanagerin im Zusammenhang mit der Jahrhundertflut im letzten Sommer im Ahrtal. Ihr Ringen um Worte, ihre Pausen zwischen den Sätzen, ihr unsicher hin und her wandernder Blick, all dies wirkte nach inszenierter Emotionalität. Mutmasslich war es ein Versuch, durch das Erregen von Mitleid sich im Amt halten zu können. Falls es Taktik war, ist diese kolossal gescheitert. Falls die Gefühle und die Unsicherheit echt waren, ebenso. Der verstörende Auftritt der Ministerin warf Fragen auf und zeigte vor allem eines deutlich: Dass sie überfordert ist.
Zur Vorgeschichte: Die 41-Jährige war noch im vergangenen Sommer Umweltministerin der Landesregierung von Rheinland-Pfalz. Im Juli 2021 wurden Teile von Rheinland-Pfalz bei der Jahrhundertflut an der Ahr hart getroffen. 134 Menschen starben, Tausende verloren Hab, Gut und ihre wirtschaftliche Existenz. Die grüne Politikerin wirkte damals als Krisenmanagerin überfordert. Zunächst verpasste es ihr Ministerium, frühzeitig vor der Gefahr einer möglichen Flutkatastrophe zu warnen. Extremsituationen, hiess es aus ihrem Ministerium Stunden vor der Hochwasserkatastrophe, seien nicht zu erwarten.
Als die Ahr schon längst über die Ufer getreten war, war die Ministerin telefonisch über Stunden nicht erreichbar. Medien recherchierten die Hintergründe und deckten auf, dass sich die vierfache Mutter kurz nach der Flut für vier Wochen in die Frankreich-Ferien verabschiedet hatte. Medial und politisch wurde der Druck immer grösser. Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) forderte schon vor Tagen ihren Rücktritt. Spiegel räumte derweil immer nur so viel und häppchenweise ein, wie über Medienberichte bekannt geworden war.
Die jüngsten Enthüllungen der «Bild am Sonntag» über Details ihrer Frankreich-Ferien – Spiegel sagte dem Bericht zufolge nicht die Wahrheit über ihre angebliche Teilnahme an Krisensitzungen – führten zu der skurrilen Pressekonferenz am Sonntagabend. Spiegel gab tiefe Einblicke in ihr Privatleben, erzählte von ihrem Ehemann, der 2019 einen Schlaganfall erlitten hatte. Von ihren vier Kindern, die nur schlecht durch die Coronazeit gekommen seien. Von ihrem politischen Engagement, das sie stark gefordert habe. Dass ihre Familie die Ferien so dringend benötigt hätten. «Es war zu viel», sagte sie mit stockender Stimme. Der ganze Druck «hat uns als Familie über die Grenze gebracht.» Nach einer bizarren Pause am Ende des Statements, nach dem sie fragenden Blickes mutmasslich zu ihrem Pressesprecher blickte, schloss sie: «Ich bitte für diesen Fehler um Entschuldigung.»
Spiegel versuchte das Unvermeidbare zu vermeiden, in dem sie Überforderung einräumte und wohl auf den Mitleid-Bonus setzte. Das wurde ihr allerdings nicht wohlwollend ausgelegt. «Spiegel benutzt die Erzählung vom Schicksal ihrer Familie, auch das ihrer Kinder, um ihre politische Karriere zu retten», attestierte das Magazin «Spiegel» ein unrühmliches Kalkül. Darüber hinaus wirft der Umstand der (sehr menschlichen) Überforderung die Frage auf, warum sich Spiegel denn zu grösseren Aufgaben überhaupt berufen fühlte, als sie sich einen Platz im Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin erstritt. Hier leitete sie bis heute immerhin das wichtige Bundesfamilienministerium. Krisenresistenz ist für Bundesministerinnen und Bundesminister eines der wichtigsten Anforderungsprofile.
Der Kanzler dürfte spätestens nach dem irritierenden Auftritt vom Sonntagabend zur Erkenntnis gelangt sein, dass er knapp vier Monate nach Arbeitsbeginn für die Ampel-Koalition sein Kabinett umbilden muss. Wer auf Spiegel folgen wird, steht noch aus.