Der vielleicht mächtigste Journalist Europas musste nach Vorwürfen des Machtmissbrauchs seinen Posten räumen. «Weltwoche»-Chef Roger Köppel wittert hinter dem Rauswurf ein politisches Motiv.
Er galt als der einflussreichste Chefredaktor von ganz Europa, doch seit Montag ist er seinen Job los: «Bild»-Chef Julian Reichelt. Der Axel-Springer-Konzern, der Deutschlands auflagenstärkste Zeitung herausgibt, hat den 41-jährigen Journalisten nach neuerlichen Vorwürfen des Machtmissbrauchs per sofort von seinen Aufgaben enthoben. Reichelt war seit 2017 an der Spitze der «Bild». Reichelt, so der Vorwurf, habe Privates und Berufliches nicht voneinander getrennt.
Bereits im Frühjahr gab es Berichte, wonach Reichelt seine Machtposition gegenüber weiblichen «Bild»-Mitarbeiterinnen ausgenutzt haben soll. In einer damaligen Springer-internen Untersuchung soll Reichelt offenbar nicht die Wahrheit gesagt haben. Er habe auch nach dem Verfahren weiterhin das Abhängigkeitsverhältnis zu mindestens einer «Bild»-Mitarbeiterin ausgenutzt. Zuletzt berichtete die «New York Times» über den Skandal beim deutschen Boulevard-Flaggschiff.
Die Absetzung des früheren Kriegsreporters Julian Reichelt schlägt Wellen bis in die Schweiz und sorgt etwa bei «Weltwoche»-Chef und SVP-Nationalrat Roger Köppel für Verwunderung. Köppel hält grosse Stücke auf Reichelt, ist regelmässiger und gern gesehener Gast in der Bild-TV-Sendung «Viertel nach Acht». Dort hat Köppel seit August mehrfach mit Julian Reichelt und dessen Redaktionskollegen über gesellschaftliche und politische Ereignisse diskutiert.
Köppel lobt den abgesetzten «Bild»-Chef gerne auch auf seinem Youtube-Kanal, wo er in seiner Sendung «Weltwoche Daily Deutschland» auf unseren nördlichen Nachbarn blickt. Köppel sagte noch im September gegenüber CH Media:
«Vor Julian Reichelt und seinem unkonventionellen und mutigen Stil habe ich grössten Respekt.»
Köppel thematisierte die Absetzung des «Bild»-Chefs auch am Dienstag, zunächst auf seinem Youtube-Kanal, später auch gegenüber CH Media: «Julian Reichelt bewundere ich als mutigen und fähigen Journalisten, der einen der anspruchsvollsten Jobs, den es in unserem Metier gibt, mit Bravour meisterte.» Der 56-jährige Köppel hält Reichelt trotz der massiven Vorwürfe die Stange und bringt die Theorie einer politisch motivierten Absetzung des unbequemen und mächtigen Chefredaktors ins Spiel.
Reichelt habe- etwa in der Corona-Krise - die «Bild» auf einen oppositionellen Kurs gegenüber der Regierung getrimmt. Köppels Mutmassung:
«Mir kann niemand erzählen, dass Julian Reichelt sich dadurch nicht auf die Abschussliste der Ideologiefraktion gesetzt hat.»
Laut dem SVP-Nationalrat werde «die Unschuldsvermutung ausser Kraft» gesetzt, sobald der Vorwurf des Machtmissbrauchs zwischen Mann und Frau aufkomme. Köppel wettert gegen die «Gerichtshöfe der Moral», die «eben keine Prozessordnung» kennen würden. Die Geschichte rund um Julian Reichelt habe «einen merkwürdigen Gout», sinniert der Weltwoche-Verleger und fügt hinzu: «Für mich riecht das Ganze etwas nach politischer Vendetta.» Köppel mutmasst, dass dem in die USA expandierenden «Springer»-Verlag bewusst Schaden zugefügt werden soll durch die Berichterstattung über ein mutmasslich schlechtes Betriebsklima beim «Springer»-Aushängeschild «Bild». Köppel: «Es ist ein Minenfeld da draussen. Andersdenkende stehen im Fadenkreuz der linken Inquisition.»
Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender von Axel Springer, dürfte seinen einflussreichsten Chefredaktor allerdings kaum auf politischen Druck hin gefeuert haben. Döpfner gilt als grosser Fan Reichelts. Dass der Chefredaktor von Deutschlands mächtigster Zeitung seine Machtstellung im Verhältnis zu weiblichen «Bild»-Mitarbeiterinnen ausgenutzt haben soll, ist für Springer in diesem Moment äusserst heikel. Der Konzern hat grosse Expansionspläne auf dem amerikanischen Markt.
Ein ehemaliger «Springer»-Journalist berichtet von einer «Macho-Kultur» beim deutschen Boulevard-Flaggschiff. «Die Bild wurde nach seiner Ernennung zum Chefredakteur von einem Boy-Club rund um Julian Reichelt regiert, wie ich später dann über meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen erfahren habe. Dass Reichelt ein problematisches Verhältnis zu Frauen hat, blieb den meisten nicht verborgen», sagt der Journalist, der anonym bleiben möchte und über enge Kontakte zu «Springer» verfügt. Die Freistellung Reichelts sei «nicht wahnsinnig überraschend» erfolgt.
Bereits im Frühjahr, als die ersten Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegen Reichelt publik wurden, sei in der Springer-Belegschaft mit harten Konsequenzen gegen den Bild-Chef gerechnet worden. «Viele waren überrascht, dass es im Frühjahr zu vergleichsweise geringen Konsequenzen gekommen war.» Der Journalist betont, dass Reichelt - bei aller berechtigter Kritik - über Qualitäten als Chefredakteur verfügt habe. «Sein Stil war sehr auf Leistung fokussiert, es gab aber durchaus auch gute Seiten an ihm.»