Am Sonntag vor 25 Jahren: «DDR öffnet Grenze» wird vermeldet, die Mauer ist gefallen. Jahre später war die Mauer plötzlich wieder da - eine Mauer in den Köpfen. Ein Blick zurück mit dem Wochenkommentar von Dagmar Heuberger, Ressortleiterin "Ausland".
Die Bilder sind im Kopf, als wäre es gestern gewesen; die Erinnerung kann auf Knopfdruck abgerufen werden: Der Abend des 9. November 1989. «DDR öffnet Grenze», meldet die ARD-Tagesschau um 20 Uhr.
Sie zeigt einen Ausschnitt aus der Pressekonferenz von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski. Der verkündet – sichtlich überfordert – Reisefreiheit für DDR-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland.
Was das bedeutet, ist in diesem Moment noch unklar. Über die tschechoslowakische Grenze reisen seit dem Sommer Zehntausende Menschen vom Osten in den Westen Deutschlands. Die BRD hat ein Flüchtlingsproblem.
Heutzutage schalten sämtliche Online-Medien bei einem auch nur annähernd vergleichbaren Ereignis sofort einen Liveticker auf. Doch damals gab es weder Internet noch Online-Medien.
Daher wird einem erst Stunden später bewusst, was sich da im Nachbarland gerade abspielt. «Die Tore in der Mauer stehen weit offen», heisst es in den ARD-Tagesthemen.
Fernsehbilder von jubelnden oder vor Freude weinenden Ostberlinern, die nach Westberlin strömen, gibt es allerdings nicht – der ARD-Reporter steht am falschen Grenzübergang.
Am späten Abend deshalb ein Anruf bei den Eltern: «Habt ihr gehört? Die Mauer ist offen.»
«Auf keinen Fall. Diese Mauer kommt nie weg», antwortet die Mutter und wiederholt damit, was sie vor 28 Jahren beim Bau der Mauer sagte. «Die Grenze ist offen. Jetzt wird Deutschland endlich wiedervereinigt», widerspricht der Vater.
Das widerspiegelt ziemlich genau die Stimmung jenes historischen Tages vor 25 Jahren: auf der einen Seite die bange Frage nach der Reaktion der Sowjetunion. Würde Moskau es zulassen, dass die DDR den sowjetischen Machtbereich verlässt?
Oder würden – wie 1968 in der Tschechoslowakei und 1956 in Ungarn – die Panzer rollen?
Man konnte ja nicht wissen, dass Kreml-Chef Michail Gorbatschow nicht die Absicht hatte, die Entwicklung zu stoppen. Auf der anderen Seite die Hoffnung, dass die Teilung Deutschlands zu Ende sein könnte. Eine Hoffnung, die freilich nicht alle teilten. Und von der längst nicht alle glaubten, dass sie sich erfüllen werde.
Einer, der schon früh nach dem «Mantel der Geschichte» griff – wie er in Anlehnung an ein Wort Otto von Bismarcks sagte – war Helmut Kohl.
Am Abend jenes 9. November reagierte allerdings auch der deutsche Kanzler überrascht und ratlos.
«Die Konsequenz dieser Entscheidung ist im Moment nicht absehbar», sagte Kohl in Warschau, wo er zu einem mehrtägigen Staatsbesuch weilte – ein Besuch, den er am folgenden Tag abbrach.
Man kann Kohl im Nachhinein einiges vorwerfen. Den Prozess der deutschen Einheit ging er aber sehr besonnen und behutsam an. Vor allem vermied er es, aufzutrumpfen.
Ihm war bewusst, dass die Wiedervereinigung nur mit der Zustimmung der vier Siegermächte von 1945 (USA, Sowjetunion, Grossbritannien, Frankreich) zu machen war.
Und dass die Angst vor einem viel grösseren, 80 Millionen Menschen zählenden Deutschland besonders in London und Paris gross war. Von «Grossdeutschland», «Grossmannssucht», ja vom «Vierten Reich» war in jenen Tagen oft die Rede.
Am Ende erkaufte sich Kohl die Einheit mit zwei Zusagen: Gegenüber dem französischen Präsidenten François Mitterrand stimmte er der Einführung des Euro zu. Der de facto bankrotten Sowjetunion überwies er einen zweistelligen Milliardenbetrag.
Doch von all dem konnte man in jener Novembernacht 1989 noch nichts wissen. Auffallend waren hingegen bald einmal die hohen Erwartungen der Ostdeutschen.
Anfänglich – das vergisst man heute oft – ging es den demonstrierenden DDR-Bürgern lediglich um Reformen, Reisefreiheit und freie Wahlen. Mit der Einführung der D-Mark und der Vollendung der Einheit 1990 drehten die Wünsche ins Materielle.
Die meisten Ostdeutschen glaubten, sie würden von einem Tag auf den anderen so wohlhabend werden wie die Menschen im Westen. Hatte Kohl nicht «blühende Landschaften» versprochen? Die Ostdeutschen glaubten ihm blauäugig. Doch das, so zeigte sich, war der grösste Fehler des «Kanzlers der Einheit».
Als die Landschaften trocken blieben, ja immer öder wurden, war die Enttäuschung so gross wie die Freude in der Nacht des 9. November.
So mancher Ostdeutsche wünschte sich in den 1990er-Jahren die «gute alte DDR» zurück – «Ostalgie» lautete das Schlagwort der Stunde.
Die Westdeutschen wiederum behandelten die «Ossis» herablassend, arrogant und jammerten über den Solidaritätszuschlag, die neue Steuer, die sie ab Juli 1991 entrichten mussten. Die Euphorie war wie weggeblasen; die Mauer war wieder da – eine Mauer in den Köpfen.
Mittlerweile hat Ostdeutschland aufgeholt. Doch Unterschiede sind immer noch vorhanden – und werden beklagt: Die Arbeitslosigkeit ist höher als im Westen, die Löhne sind tiefer. Entsprechend gross ist die Abwanderung aus den neuen Bundesländern.
Andererseits ist die Ausländerzahl niedriger als im Westen. Fremdenfeindlichkeit und Zulauf zu rechtsextremen Parteien sind hingegen – absurderweise – grösser.
Doch auch zwischen Baden-Württemberg und Hamburg oder Bremen gibt es wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede.
So wie zwischen der Deutschschweiz und der Romandie. Warum nur immer alles über den gleichen Leisten schlagen? Und die Einheit in den Köpfen? Auch sie ist noch nicht vollständig da.
Aber gibt es nicht auch Vorurteile zwischen Zürchern und Baslern? Allen Problemen zu Trotz: 25 Jahre Mauerfall sind ein Grund zur Freude.