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Er steht zuoberst auf der Abschussliste der italienischen Mafia: Nino di Matteo. In seinem Buch zeigt der 54-jährige Mafiajäger auf, wie eng Staat und Mafia verbandelt sind.
Der 54-jährige Nino di Matteo steht zuoberst auf der Abschussliste der Mafia: Auf dem Staatsanwalt aus Palermo lastet ein Todesurteil des inhaftierten Super-Paten Totò Riina. «Di Matteo muss sterben, der macht mich noch verrückt», hat der ehemalige Boss der Bosse der sizilianischen Cosa Nostra in einem von den Ermittlern abgehörten Gespräch vor zwei Jahren zu einem Zellengenossen gesagt.
Seither wird der Staatsanwalt von über einem Dutzend Polizeibeamten rund um die Uhr beschützt; die Leibwache wurde mit einem Detektor ausgerüstet, der Anschläge mit ferngesteuerten Bomben verhindern soll. Innenminister Angelino Alfano hatte di Matteo sogar ein gepanzertes Militärfahrzeug angeboten, was dieser dankend ablehnte: Ein Radpanzer sei kein geeignetes Fahrzeug, um sich in einer Stadt wie Palermo zu bewegen.
Di Matteo, der an den Ermittlungen gegen Riina und dessen Corleonesi-Bande beteiligt gewesen war, hat sich den Zorn der Clans vor allem mit dem Verfahren gegen ehemalige Mafiabosse und hohe Staatsrepräsentanten zugezogen, der im Mai 2013 in Palermo begonnen hat.
In dem noch laufenden «Prozess der Prozesse» geht es um das dunkelste aller italienischen Geheimnisse: Um den Pakt, den der Staat in den Neunzigerjahren mit der Mafia geschlossen hatte, um das Morden der Cosa Nostra zu stoppen. Auf der Anklagebank sitzen neben Riina und anderen Mafiosi hohe Staatsvertreter wie die ehemaligen Minister Nicola Mancino und Calogero Mannino sowie der frühere Chef der Spezialeinheiten der Carabinieri, Mario Mori.
Der Prozess ist nicht nur der Cosa Nostra ein Dorn im Auge – auch mancher Politiker möchte die unrühmliche Vergangenheit ruhen lassen. Ex-Premier Silvio Berlusconi hatte den Prozess als «Zeitverschwendung» und «Verschleuderung von Steuergeldern» bezeichnet, und er war mit dieser Kritik keineswegs allein.
Als publik wurde, dass im Rahmen der Telefonüberwachung gegen den angeklagten Ex-Innenminister Mancino im Jahr 2012 auch ein Gespräch mit dem damaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano mitgeschnitten worden war, wurde ein Disziplinarverfahren gegen di Matteo eingeleitet, das später eingestellt werden musste. Napolitano ist später von di Matteo als Zeuge einvernommen worden, was dem Ankläger in politischen Kreisen den Vorwurf der Subversion eingetragen hat.
«Ich weiss, dass ich vielen auf die Nerven gehe», erklärte di Matteo diese Woche in Rom, wo er sein Buch «Collusi» (Die Verbandelten) vorstellte, das er zusammen mit dem sizilianischen Journalisten Salvo Palazzolo geschrieben hat. Der Prozess über die Verhandlungen des Staats mit der Mafia werde als unnütz und störend angesehen – doch damit werde die Arbeit der Justiz delegitimiert, und das sei gefährlich, betonte der Staatsanwalt.
Die Mafia sei keineswegs besiegt, auch wenn sie heute weniger schiesse und Bomben lege als früher. Sie habe sich angepasst, sei in legale Geschäftsfelder wie die Bauwirtschaft, den Tourismus und das Gesundheitswesen eingedrungen. Die Nähe der Clans zu der Politik sei damit nur noch grösser geworden. Nicht umsonst lautet der Untertitel seines Buches: «Warum Politiker, Männer der Institutionen und Manager weiterhin mit der Mafia verhandeln».
Ein schlagender Beweis für diese Feststellung liefern die Regionalwahlen in Kampanien, die am 31. Mai stattfinden. Der von Regierungschef Matteo Renzi geführte Partito Democratico (PD) lässt sich von Koalitionspartnern unterstützen, auf deren Wahllisten sich diverse Persönlichkeiten befinden, die für ihre Nähe zum Camorra-Clan der Casalesi bekannt sind – unter anderem ein Herr, der den Übernamen «Calibro 12» trägt, seit bei ihm bei einer Hausdurchsuchung eine Schusswaffe dieses Kalibers gefunden wurde.
Der Spitzenkandidat des PD in Kalabrien, der Bürgermeister von Salerno und ehemalige Vizeminister Vincenzo de Luca, ist wegen Amtsmissbrauchs vorbestraft. Renzi hat sich zwar von den «unpräsentierbaren» Kandidaten distanziert, mag aber auf die Hilfe der von der Camorra kontaminierten Koalitionspartner nicht verzichten.
Bei Wahlen zählt jede Stimme – und die Mafia ist bekannt dafür, grosse Stimmenpakete zu kontrollieren. Die mit der Hilfe der Clans gewählten Kandidaten sorgen später in den politischen Gremien dafür, dass bei Bauaufträgen, öffentlichen Stellenbesetzungen und Subventionen die richtigen Personen, Familien und Unternehmen berücksichtigt werden.
«Der Umstand, dass Stimmenkauf nach wie vor deutlich milder bestraft wird als die Bildung einer mafiösen Vereinigung, belegt, dass wir immer noch nicht begriffen haben, dass es sich beim Kampf gegen die Mafia vor allem um einen kulturellen und politischen, nicht um einen polizeilichen Kampf handelt», betont di Matteo. Die Mafia möge ihre Strategie geändert haben und nun «friedlicher» erscheinen, aber im Innersten ändere sie sich nie: «Vor allem die sizilianische Cosa Nostra hat es in ihren Genen, dass sie den Kontakt zu den Politikern sucht.»
Zum kulturellen und politischen Kampf gegen die Mafia würde laut di Matteo auch gehören, dass endlich ernsthaft gegen die Korruption vorgegangen würde, die in Italien immer ungehemmter wuchert. «Korruption und Mafia sind zwei Seiten der gleichen Medaille», betont der Staatsanwalt. Mit Bestechung versuchten die Clans, politische Entscheide zu beeinflussen – so wie sie es früher mit Waffengewalt getan hätten.
Die Mafia, die als grösstes Unternehmen Italiens jährlich rund 170 Milliarden Euro umsetze und über eine Liquidität von 70 Milliarden Euro verfüge, besitze ein ungeheures Korruptionspotenzial. «Aber das heutige System garantiert den Korrupten faktisch Straffreiheit», kritisiert di Matteo. Von den über 60 000 Häftlingen in Italiens Gefängnissen sässen nur ein paar Dutzend wegen Korruptionsdelikten im Gefängnis.
Insgesamt zeichnet di Matteo ein düsteres Bild, was die Bekämpfung der Mafia anbelangt: Man habe zwar bei der Repression in den letzten zwanzig Jahren grosse Fortschritte erzielt; zahlreiche Bosse seien hinter Gitter gewandert. «Aber auf politischer Ebene sehe ich keine Verbesserungen: Es gibt keine Politiker, die bereit wären, mit dem Erlass griffiger Gesetze Verantwortung zu übernehmen; ich höre nur leere Parolen. Die ganze Arbeit lastet auf den Schultern der Justiz», klagt der Staatsanwalt. «Doch um die Mafia zu besiegen, muss der Staat bereit sein, wirklich in sich hineinzusehen und Selbstkritik zu üben.»