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Die britische Königin Elizabeth II. wird 90 Jahre alt. Adel komme von blauem Blut, wurde dem Plebs weisgemacht. Adel kommt allenfalls von ruhigem Blut. Das behielt die Queen zeitlebens. Manchmal gar kaltes Blut. Ihr Wesen war Haltung. So bewahrte sie, kraft ihrer Persönlichkeit, die Monarchie vor der Auflösung.
Kälte der Etikette wurde ihr nachgesagt, vor allem, als Prinzessin Diana starb. Streng nach Etikette zog sich die Queen damals in den Palast zurück, die Fahnen wurden nicht auf halbmast gesetzt. Draussen suhlte das Volk in Tränen und in einem Blumenmeer.
Premierminister Tony Blair überzeugte damals die Queen, doch noch etwas zu sagen. Für die Zögerlichkeit wurde Elizabeth harsch kritisiert.
Nun, da sich der hysterische Kitsch um die «Prinzessin der Herzen» längst gelegt hat, wirkt das damalige Verstummen der Queen als Trauerform plötzlich würdiger als das Tränenmeer.
Auch Ungeschick mit der Etikette, gar ein Bruch der Etikette kann die Queen hinnehmen. Sie ist darin ebenso wenig eisern, wie die Etikette sakrosankt ist.
Aber rigoros, denn die Etikette übersteigt jede noch so sympathische Spontaneität.
Als Michelle Obama der Queen bei einem Empfang 2009 den Arm um die Schulter legte, war das ein grosser Fauxpas: Die Queen berührt man nicht.
Was tat sie? Die Nachfahrin von Kolonialherren legte der Nachfahrin von Sklaven den Arm um die Taille.
Amerikas First Lady wird beides nicht vergessen: der Wert der Freiheit von Etikette. Und das Gewicht königlicher Strenge.
Und die private Frau?
Neben dem Protokoll, worauf sich schon Elizabeth I Leib und Leben zugeschnitten hatte, ebenso erbarmungs- wie denkwürdig, gibt’s natürlich immer noch die Privatperson:
Die junge Frau, die «Ja» gesagt hatte zur Rolle, aus tiefster Überzeugung «Ja!», und vielleicht dennoch die Rolle nicht gewählt hätte, in einer Welt ohne Verpflichtungen, trotz ihrer Privilegien.
Hat man die Frau vor Augen, nur ihr privates Leben, wird der Respekt nur desto grösser. Welcher Frau, nahezu auf sich allein gestellt, mutet man so etwas zu?
Welche Mutter hält so viel Unglück aus? So viel Unrast, Aberwitz und Skandal in der eigenen Familie – nicht etwa verteilt auf ein Leben, sondern alles zusammen in einem einzigen Jahr:
Die Schwester, früh geschieden, versinkt in einem exzessiven Lebenswandel.
Der zweitälteste Sohn trennt sich von seiner Frau. Von ihr gerät ein barbusiges Fotos in Umlauf, worauf sie am Zeh des Finanzberaters knabbert.
Die einzige Tochter lässt sich scheiden. Der älteste Sohn, noch verheiratet, auf dem alle Familienhoffnung ruht, tauscht am Telefon Obszönitäten aus mit einer Geliebten und wird belauscht.
Die Schwiegertochter veröffentlicht eine intime Lebensbeichte und trennt sich vom ungetreuen Gatten. Am Ende brennt über dem Kopf gar noch buchstäblich das Haus ab. Das tönt wie Stoff aus einer Dokusoap über eine Messi-Familie mit Hartz IV. Aber die Zeiten machen alle konfus: Es ist das englische Königshaus.
Hiob rief Gott an, um Unglück in dieser Dimension zu überstehen, einen verborgenen Gott. Worauf berief sich die zierliche Grossmutter, als 1992, im «annus horribilis», solche Prüfungen über sie hereinbrachen? Sie glaubte ans Amt.
Und weil diesem Amt nur noch beschränkte Macht innewohnt, bedeutete das: Queen Elizabeth II brauchte den Glauben an die Etikette.
Wenn jetzt, am Wochenende, das Jubiläum ihrer Krönung vor sechzig Jahren gefeiert wird, beugt sich die Queen nicht mehr der Etikette, weil sie sie längst personifiziert – die Etikette verbeugt sich vor ihr.
Keine Märchentante
Mindestens so steif leben wir alle: Mit dem Korsett der Etikette, mit unserer Sorge um Balance zwischen Takt, persönlicher Freiheit, Manieren und Form. Zwischen Sitte und Gier. Auch als Republikaner oder Demokrat, zumal in Zeiten, da sich Demokratie vulgarisiert und sich neue Kanäle auftun für individualistische Schamlosigkeit, Sucht und Bestialität: Kannibalen posten ihre Scheusslichkeiten. Einer wollte als Plastikpuppe berühmt werden und aussehen wie Barbies Freund Ken; das bezahlt er jetzt, ebenfalls öffentlich, mit einem Sterben in Teilen, in Raten.
Dagegen kann eine immer in Pastell gehüllte Queen keine Märchenfigur sein. Weder Bollwerk noch Vorbild für Haltung mit Anstand. Auch höherer Stand ist genealogischer Dunst, aufgepeppt mit Blattgold, Veteranen-Weihrauch: Aura, Damast und Dünkel. Auch blaues Blut ist schrecklich rot. Die Engländer wussten das vor den Sansculottes in Frankreich: Lange vor der Guillotine in Paris hackte man in England bereits Königen und Königinnen den Kopf ab.
Trotzdem wäre der ein Trampel oder Banause, der nicht gleichwohl höhere Feinheiten an der Queen erkennt – und schätzt: diese unnachahmliche Herablassung, aufgelöst in vollendeter Zurückhaltung. Diese angenehm temperierte Freundlichkeit. Diese überall und immer gleiche, also verlässliche Kühle.
Jeder Mensch mit Urteilsvermögen und Geschmack muss bisweilen Abstand nehmen von unerwünschten Dingen, muss es trotz der Gefahr tun, dass Abstand rasch zu Überhebung verleiten kann. Indignation mit Demut – das ist ein Widerspruch, den unter Leuten oft nur die Etikette zu tragen hilft (und zu überwinden). Darum schielt man ab und zu auf Musterfiguren: Wie bewahren sie Haltung in wechselhaften Lagen?
Die Mutter der Contenance
Die Mutter aller Contenance ist inzwischen ohne jeden Zweifel die Queen. Sagen wir es ohne Rührung oder Pathos: Wenn man wissen wollte, wie man mit einer Sensation neuster Unerheblichkeit umgeht, der sah einfach zu, wie Queen Elizabeth Lady Gaga empfing. Und man war beinahe getröstet, mindestens «amused». Nur schon dafür lohnen sich die jährlichen Hofausgaben, über die Briten aktuell erstaunlich selten stöhnen.
Natürlich ist auch die Dienstzeit der Queen, die längste aller europäischen Monarchen, heute bestens dafür angelegt, Tagesaufregungen mit dem Gleichmut von Jahrzehnten abzufedern: Elizabeth blieb trotz «German Blitz» in England. Der Prinzessinnen-Flügel von Windsor-Castle lag auf der Bomberlinie der deutschen Luftwaffe; ein Geschoss schlug im Hof von Buckingham ein. «Lilibeth» steuerte im Krieg Lastwagen und konnte Motoren flicken.
Sie erlebte den Zerfall des britischen Weltreichs und den Kalten Krieg. Sie sah zwölf Premierminister kommen und gehen.
Sie setzte sich gegen Winston Churchill durch, die personifizierte britische Bulldog-Unbeugsamkeit, als der sich gegen eine TV-Übertragung ihrer Krönung wehrte: «Das Kabinett wird nicht gekrönt, ich bin es», teilte sie der Regierung mit. Sie nutzte die neuen Mittel und war nicht willens, sich in der Tradition begraben zu lassen, auch wenn sie nicht mit Traditionen brach.
Eins der Pferde, die damals ihre Kutsche zogen, hiess Eisenhower. Der Film der Krönung wurde im Jet-Tempo nach Kanada geflogen, wo schliesslich auch ein riesiges amerikanisches Publikum die Wirkung des Ganzen mehrte.
So etwa auch die Geschichte ihres Krönungskleides: Die Kriegsentbehrungen waren noch in frischer Erinnerung, als Elizabeth sagte, sie sammle wie alle Kleidercoupons für die Robe. 2000 Perlen waren darin eingewoben – einen Truck voller Coupons hätte sie sammeln müssen. Also war das wohl eher ein Akt von Understatement.
Wildfang mit zwei Kilo Krone
Sieht man sich Bilder von Elizabeth vor der Zeit ihrer Krönung an, ist man erst recht verblüfft über die Entschlusskraft dieses Twens. «Lilibeth» war ohne Einschränkung ein fescher Feger, graziös, mit wunderbar femininer Taille, dazu lebhaft von ganzem Wesen, wie ihr frisches Gesicht zeigte.
Wie konnte sie dann, klag- und anscheinend mühelos, die zweieinhalb Kilo schwere Krone tragen, Tausende von Gardistenparaden zu Fuss oder auf Gäulen abnehmen, hunderttausend Teepartys geben, Millionen Eröffnungsbänder durchschneiden und sich bei allem ohne Fisimatenten der Etikette beugen?
Nur wenn fleischige Kerle im Schottenrock ein paar Meter weit phallische Baumstämme fortwuchten, nahe Balmoral, ihrem Erholungsschloss, mischt sich jeweils ein Tropfen Übermut in ihr Verhalten. Nie trug sie das Amt wie ein Kreuz. Nie eitel wie eine Showkorsage. Nie hatte man den Eindruck, dieses Mädchen, diese Frau hätte irgendwann dafür die Persönlichkeit verbiegen müssen.
Es geht um leise Gewichtsverschiebungen mit weitreichenden Folgen. Um eine Entscheidung, die jeder trifft, mit sich im Klaren oder weitgehend unbewusst: Fürs Gesellschaftsleben kann man sich Manieren zulegen – dann wird man manieriert. Oder man kann sich für eine Form entscheiden, dann gewinnt man eventuell Format. Manieren bleiben äusserlich, sind mithin nie frei von Lächerlichkeit. Form beruht auf innerer Kraft. Elizabeth spielt nicht Königin; sie entschloss sich dazu, als 26-Jährige, und ist Königin.