Interview
«Die Taliban sind weniger flexibel als erwartet», sagt der Afghanistan-Experte vor dem heutigen G20-Sondergipfel in Rom

Europa habe eine besondere Verantwortung für die Afghaninnen und Afghanen, die jetzt ihr Land verlassen müssten, sagt Taliban-Experte Thomas Ruttig vor dem heutigen Afghanistan-Sondergipfel der G20 in Rom.

Samuel Schumacher
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Die alten und neuen Herrscher über Afghanistan: Die Taliban seien wohl selbst überrascht gewesen, wie schnell und umfassend ihr Sieg gegen die Regierungstruppen ausgefallen sei, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.

Die alten und neuen Herrscher über Afghanistan: Die Taliban seien wohl selbst überrascht gewesen, wie schnell und umfassend ihr Sieg gegen die Regierungstruppen ausgefallen sei, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.

AP

Seit August sind die Taliban in Afghanistan an der Macht. Ihre Kämpfer hatten das Land nach dem Abzug der internationalen Truppen innert Kürze überrannt. Die Taliban hatten versprochen, Afghaninnen nicht wie während ihrer ersten Regentschaft in den 1990er Jahren zu diskriminieren.

Dennoch häufen sich Bericht von Frauen, die nicht mehr arbeiten oder studieren dürfen. Zudem liefern sich die Taliban mit Ablegern des IS blutige Kämpfe. Es kommt regelmässig zu Anschlägen. Laut internationalen Beobachtern droht dem Land der wirtschaftliche Kollaps.

Deswegen hat Italiens Ministerpräsident Mario Draghi Vertreter der G20-Staaten für heute nach Rom eingeladen, um darüber zu diskutieren, wie man mit den Taliban umgehen soll. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig hat mehr als zehn Jahre in Afghanistan gearbeitet. Er ist Co-Direktor der Organisation Afghanistan Analysts Network und sagt, Europa stehe jetzt klar in der Verantwortung.

Hat sich seit der Machtübernahme der Taliban alles so entwickelt, wie man das voraussehen konnte?

Thomas Ruttig: Nein. Die Taliban haben sich der eigenen Bevölkerung gegenüber weniger flexibel gezeigt als erwartet. Das kann vielleicht dem Umstand zugeschrieben werden, dass ihr Sieg auch für sie selbst unerwartet schnell zustande kam. Sie sind offenbar nur zu wenig Kompromissen bereit. Aber die Lage bleibt uneinheitlich.

Thomas Ruttig, Afghanistan-Experte.

Thomas Ruttig, Afghanistan-Experte.

ZVG

Die Repressionen gegenüber Frauen und Mädchen deuten darauf hin, dass die neuen Taliban sich kaum von jenen der 1990er unterscheiden.

Es gibt mehr Kontinuität zu der vor-2001-Periode als erwartet. Zumindest in einigen Provinzen aber ist es Mädchen weiterhin gestattet, über die 6. Klasse hinaus in der Schule zu bleiben.

Frauen und Mädchen haben unter den Taliban ein schweres Los.

Frauen und Mädchen haben unter den Taliban ein schweres Los.

AP

Können die Taliban im Kampf gegen den Terror helfen?

Die Taliban haben es abgelehnt, mit den USA gegen den IS vorzugehen. Das ist nicht verwunderlich. Sie wollen keine neue westliche Militärpräsenz in Afghanistan.

Schaffen es die Taliban , dass Afghanistan nicht zu einem Hort für Terroristen wird?

Den IS haben die Taliban schon immer bekämpft, aber wie die vorherige Regierung sind sie nicht in der Lage, alle Terroranschläge zu verhindern. Die Taliban sind kaum daran interessiert, al-Kaida wieder freie Hand zu gewähren. Das würde eventuell Anti-Terror-Schläge gegen Afghanistan provozieren. Al-Kaida selbst benötigt Afghanistan nicht mehr. Im Gegensatz zur Zeit vor 2001 verfügt die Gruppe anderswo über gefestigten Einfluss.

Brutales Regime: Die Taliban liessen etwa in der Stadt Herat die Leiche eines Mannes öffentlich aufhängen, der wegen eines mutmasslichen Entführungsversuchs exekutiert worden ist.

Brutales Regime: Die Taliban liessen etwa in der Stadt Herat die Leiche eines Mannes öffentlich aufhängen, der wegen eines mutmasslichen Entführungsversuchs exekutiert worden ist.

AP

Die EU und die Schweiz konnten sich zuletzt nicht verbindlich über die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge verständigen. Was sagen Sie zur europäischen Passivität?

Die Regierungen im Westen sollten sich vergegenwärtigen, dass sie mit ihrem Scheitern in Afghanistan dazu beigetragen haben, dass jetzt viele Afghaninnen und Afghanen aus dem Land fliehen müssen. Darunter sind viele, auf die unsere Regierungen gesetzt hatten und die umgekehrt auf einen prodemokratischen Einsatz des Westens in ihrem Land gehofft hatten.