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Sechs Monate vor der US-Präsidentenwahl prognostizieren die meisten Auguren ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amtsinhaber Donald Trump und Herausforderer Joe Biden. Eine Politologin in Washington allerdings ist anderer Meinung.
Rachel Bitecofer ist sich ihrer Sache sicher. Deshalb prognostizierte die Politologin, die für die Washingtoner Denkfabrik Niskanen Center arbeitet, bereits vor etwas mehr als einem Jahr: Donald Trump wird die Präsidentenwahl am 3. November 2020 verlieren. Der 45. Präsident habe das amerikanische Elektorat derart tief gespalten, dass Voraussagen über den Ausgang des Schlagabtausches um das Weisse Haus «höchst berechenbar» seien, schrieb Bitecofer im Januar 2019 in einem Meinungsbeitrag für die «New York Times».
Ihre Prämisse, in aller Kürze: Der mythisch überhöhte Wechselwähler, von dem in der amerikanischen Politikberichterstattung immer wieder die Rede ist, ist in Tat und Wahrheit eine Seltenheit. Wahlentscheidend sei vielmehr die intensive Ablehnung des politischen Gegners («negative partisanship»), und von dieser Abneigung profitiere die Oppositionspartei, weil deren Positionsbezüge ständig attackiert würden.
An dieser Einschätzung Bitecofers hat sich auch im Jahr vier von Präsident Trump nicht geändert. Mit Hilfe ihres Modells, mit dem sie zum Beispiel den Ausgang der letzten Wahl zum Repräsentantenhaus korrekt vorhersagte, prognostiziert die Politologin noch immer eine Niederlage des Amtsinhabers.
Konkret: Trump wird am 3. November im besten Fall 246 der 538 Wahlmänner-Stimmen gewinnen, die letztlich darüber entscheiden, wer in das Weisse Haus einzieht, wie Bitecofer ein halbes Jahr vor dem Wahltag sagt. Bekanntlich wählen die Amerikanerinnen und Amerikaner ihren Präsidenten in einem indirekten Verfahren; demnach bestimmen die Wählerinnen und Wähler in den 50 Bundesstaaten und im Hauptstadtbezirk in separaten Abstimmungen, welcher Kandidat die jeweils dem Staat zustehende Zahl von Wahlmänner-Stimmen ergattert. Joe Biden wiederum, der designierte Kandidat der Demokraten, gewinnt gemäss Bitecofer mindestens 289 Wahlmänner, 19 mehr als für einen Sieg notwendig. Biden wird nicht nur die «swing states» Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zurückerobern, in denen Trump vor vier Jahren haarscharf eine relative Stimmenmehrheit erzielte, sondern auch in Arizona und vielleicht auch in North Carolina und Florida Oberwasser haben.
Das Erstaunliche an dieser Prognose: In den Augen von Bitecofer spielt es keine Rolle, wie sich Biden im Wahlkampf verhält. Die 43-Jährige lacht, als sie diese Aussage trifft, als sei sie sich bewusst, wie absurd dies klingen mag. Aber dann verweist sie darauf, dass Biden im amerikanischen Politbetrieb eine bekannte Grösse sei. Und dass es ihm seit seinem De-facto-Sieg in den Vorwahlen – die offiziell noch gar nicht zu Ende sind – gelungen sei, seine Partei zu einigen. Biden müsse deshalb keine Angst vor Retourkutschen enttäuschter Unterstützer von Bernie Sanders haben; solche Wähler kosteten Hillary Clinton im November 2016 den Sieg, weil sie für Kandidaten von Drittparteien stimmten.
Bitecofer ist auch der Meinung, dass selbst «ein massiver Stimulus» wie die Corona-Pandemie, verantwortlich für den temporären Zusammenbruch der amerikanischen Wirtschaft, keine Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Amerikaner und ihre Prognosen habe. Im Gegenteil: Trumps Unfähigkeit, die Krise unter Kontrolle zu bekommen, habe die Gegner des Präsidenten noch bestärkt. «Jedes Mal, wenn er eine seiner Pressekonferenzen veranstaltet, sehen sich seine Opponenten in ihrer Abneigung gegen ihn bestätigt», sagt sie.
Auch deshalb sackten die Zustimmungswerte des Präsidenten, nach einem kurzen Hoch in den Umfragen, wieder auf das alte Niveau ab – während Amtskollegen in Grossbritannien, Deutschland oder Kanada nach wie vor auf einer Sympathie-Welle reiten. Das Lager der Trump-Gegner sei schlicht und einfach grösser als das Lager seiner Unterstützer, sagt Bitecofer.
Bitecofer ist einer der wenigen Wahl-Prognostikerinnen, die nicht die neutrale Expertin gibt. Offen sagt sie, sie hoffe, dass die Präsidentschaft von Donald Trump im Januar 2021 ende. Der 45. Präsident Amerikas stelle eine Gefahr für die hiesige Demokratie dar, sagt Bitecofer, und stellt dann einen Vergleich zwischen dem aktuellen Klima in Amerika und der Zeit vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1861 her. Auf die Frage, ob diese Voreingenommenheit ihr Modell nicht beeinflusse, antwortet die Politologin aber mit einem klaren Nein. Selbstverständlich sei sie sich der Gefahr bewusst, Spekulationen über den Ausgang der Präsidentenwahl anzustellen, die nicht der Realität entsprechen. «Ich bin aber keine Anfängerin», sagt sie und verweist darauf, dass sie 2018 von Beginn weg mit starken Sitzgewinnen der Demokraten im Repräsentantenhaus gerechnet habe, während ihre Konkurrenten ihre Prognosen ständig nachbessern mussten.
Und wenn sie falsch liege und Trump am 3. November in der Tat für eine zweite Amtszeit bestätigt werde, dann werde sie ganz andere Probleme haben als die Tatsache, dass ihre Vorhersage fehlerbehaftet war. «Dann werde ich mir einen zweiten Pass besorgen müssen», sagt Bitecofer.
Das Prognose-Modell von Rachel Bitecofer sagt einen klaren Sieg des Demokraten Joe Biden bei der Präsidentenwahl 2020 voraus. Andere Prognostiker geben sich zurückhaltender. Kyle Kondik, ein Politologe an der University of Virginia in Charlottesville, sagt im Gespräch, noch sei es zu früh für eine solche klare Ansage. Sein Modell, bekannt unter dem Namen «Sabato's Crystal Ball», sieht Biden derzeit bei 248 Wahlmännern, während Präsident Donald Trump 233 Wahlmänner auf sicher habe. Demnach werden die Wähler in den Bundesstaaten Pennsylvania, North Carolina, Arizona und Wisconsin entscheiden, wer ins Weisse Haus einzieht. Vier umkämpfte Staaten hat auch der Wahl-Analyst Nathan Gonzales («Inside Elections») im Visier: Er glaubt aber, dass Florida, North Carolina, Arizona und Wisconsin den Ausschlag geben werden. Andere Prognostiker sind noch zurückhaltender. So sprechen die Prognostiker des «Cook Political Report» von sechs umkämpften Bundesstaaten. (rr)