Korrespondent Jürgen Gottschlich über den Militärputsch vor einem Jahr und die Situation in der Türkei.
Vor einem Jahr putschte ein Teil des türkischen Militärs gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Putsch scheiterte, nicht zuletzt am Widerstand der Bevölkerung und aller im Parlament vertretenen Parteien. Unmittelbar nach dem Putsch waren sich noch alle einig, dass man gemeinsam die Demokratie gerettet habe.
Davon kann heute keine Rede mehr sein. Die führenden Politiker der kurdisch-linken HDP sitzen im Gefängnis, der stellvertretende Vorsitzende der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, Enis Berberoglu, ebenfalls, und zur Feierstunde im Parlament ist die Opposition nicht einmal mehr eingeladen. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, der jüngst erst mit seinem «Marsch für Gerechtigkeit» für Aufmerksamkeit gesorgt hat, spricht deshalb vom «Putsch nach dem Putsch» und meint damit die Verhängung des Ausnahmezustandes am 20. Juli 2016. Seitdem regiert Präsident Erdogan per Dekret, das Parlament spielt keine Rolle mehr.
Erdogan hat den Ausnahmezustand dazu genutzt, nicht nur die Drahtzieher des Putsches zu verfolgen, als die in der Türkei über alle Parteigrenzen hinweg die islamische Gülen-Bewegung gilt, sondern sich nahezu sämtlicher Kritiker zu entledigen. Ausserdem konnte Erdogan eine neue Verfassung durchsetzen, die den Präsidenten zum Monarchen auf Zeit macht. Die Türkei ist ein Jahr nach dem Putschversuch ein anderes Land. Offiziell ist viel von Demokratie die Rede, doch tatsächlich entscheidet nur noch der Präsident. Die kritische Presse ist ausgeschaltet, und auf die Unabhängigkeit der Justiz hoffen verhaftete Erdogan-Kritiker vergeblich. Oberflächlich erscheint das Land stabil. Doch der Eindruck trügt. Die Gesellschaft ist so gespalten, dass echte Stabilität kaum entstehen kann.
Jürgen Gottschlich, Athen
nachrichten@luzernerzeitung.ch