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Heute vor einem Jahr stürzte in Genua die Morandi-Brücke ein. Der Bau der neuen Brücke hat bereits begonnen – mit vielen offenen Fragen.
Der heutige Tag hat für Anna Rita Certo vor allem symbolischen Wert. «Von diesem Tag an werden wir offiziell keine ‹Evakuierten› mehr sein.» Die 63-Jährige hat bis vor einem Jahr zusammen mit ihrer älteren Schwester Mimma in der Wohnung ihrer Eltern in Genua gelebt – bis die Morandi-Brücke zusammenbrach. Am 14. August 2018 um 11.36 Uhr stürzte die Brücke, die Hauptverkehrsader der Hafenstadt Genua, ein. 43 Menschen kamen ums Leben. 619 Anwohner der Häuser, die sich unter der Brücke befanden, mussten wie die Schwestern Certo ihre Wohnungen für immer verlassen.
Anna Rita Certo sieht dem Jahrestag mit gemischten Gefühlen entgegen. «Dieser Tag ist eine wichtige Etappe, die wir nehmen müssen. Es wird ein Tag der Trauer, aber wir sagen an diesem Tag auch auf Wiedersehen dazu, die ‹Evakuierten› zu sein.» Sie und ihre Schwester hätten zwar einen neuen Weg eingeschlagen, «nun wird unser Leben aber auch offiziell neu beginnen».
Mit dem Jahrestag enden auch die Zuwendungen des Staates. Viele der einstigen Bewohner der jetzigen Sperrzone leben heute in Mietwohnungen – bisher kostenfrei, die Stadt hatte die Miete für ein Jahr übernommen. Anna Rita Certo wohnt seit dem Unglück weiter mit ihrer Schwester zusammen. Die beiden hatten Glück im Unglück, sie hatten noch eine Zweitwohnung in der Altstadt. «Die wollten wir eigentlich gerade verkaufen, da brach die Brücke ein», sagt Certo.
Wenn heute die rund 450 Angehörigen der 43 Opfer mit Staatspräsident Sergio Mattarella, den Vizepremiers Luigi Di Maio (Fünf-Sterne-Bewegung) und Matteo Salvini (Lega) und weiteren Offiziellen der Tragödie vor einem Jahr gedenken, soll von der alten Morandi-Brücke nichts mehr übrig sein. Die letzten Reste des Schutts sind weggeräumt. Anfang Februar hatten die Abrissarbeiten begonnen, Ende Juni wurden die letzten verbliebenen Brückenpfeiler gesprengt, die bis dahin wie ein Mahnmal in dieser offenen Wunde der Stadt standen.
Nahezu zeitgleich mit der Sprengung der letzten Pfeiler startete auch der Bau der neuen Brücke. Rund 200 Millionen Euro sind für das neue Viadukt über den Polcevera-Fluss veranschlagt. 43 Lichtsäulen darauf sollen an die Toten erinnern. Der Entwurf stammt aus der Feder des Genueser Star-architekten Renzo Piano. Die Gedenkzeremonie wird vor dem Pfeiler neun der neuen Brücke stattfinden, der sich gerade im Bau befindet. An dessen Ende wird die Flagge Genuas wehen. Die neue Brücke soll laut Verkehrsminister Danilo Toninelli im April 2020 für den Verkehr geöffnet werden.
Ein straffer Zeitplan, von dem manch einer bezweifelt, dass er eingehalten werden kann. Länger als der Bau der Brücke wird die juristische Aufarbeitung dauern. Mangelnde Wartung gilt als Grund für den Einsturz. Derzeit wird gegen 20 Personen sowie gegen den Autobahnbetreiber Autostrada per l’Italia ermittelt, der für den Strassenabschnitt verantwortlich war. Ein Prozess ist noch nicht eröffnet: Die bestellten Gutachter müssen nun bis zum 19. Dezember ihren Bericht abgeben, damit dieser als Basis für die nächste Sitzung des Beweisverfahrens Mitte Januar herangezogen werden kann. Auch werden derzeit tausende Dokumente durchgesehen, die die Wartung und Instandhaltung der Brücke der letzten Jahrzehnte dokumentieren.
Ein weiteres Problem wird mit Nachdruck versucht, in Schach zu halten: jenes der Infiltrierung der Arbeiten durch das organisierte Verbrechen. Bei den Abrissarbeiten und dem Neubau wirken zahlreiche Firmen mit. Im Mai wurde eine Baufirma von den Abriss- und Aufräumarbeiten ausgeschlossen, weil der Verdacht aufkam, sie könnte Verbindung zur Mafia haben: Sie wird von der Schwiegermutter eines verurteilten Camorra-Mafioso geführt, wie die Anti-Mafia-Ermittler mitteilten.
«Ich glaube, dass sie es schaffen, die vorgegebene Zeit einzuhalten, und wir im Frühjahr die neue Brücke einweihen können», sagt Anna Rita Certo. Es wäre eine Erleichterung für den Verkehr der Stadt: Über die Morandi-Brücke floss der Transitverkehr von Frankreich nach Italien, und auch innerstädtisch war sie die wichtigste Verbindungsstrasse. Der Verkehr habe sich nach dem Einsturz zwar wieder gut eingependelt, so Certo, «aber gerade in den letzten Tagen, als so viele Menschen an den Hafen wollten, um die Fähren für ihren Urlaub zu nehmen, ist es wieder schlimmer geworden».
Abseits der offiziellen Gedenkveranstaltung werden sich auch die «Evakuierten» treffen. In der Via Walter Fillak, wo sie sich jeden Monat treffen. Mit dem Jahrestag endet auch die Arbeit des Komitees, in dem sich die Evakuierten zusammengeschlossen hatten. «Aber wir gründen einen neuen Verein, in dem wir uns weiter um die Belange des Viertels kümmern wollen», so Anna Rita Certo, «auch wenn wir dort nicht mehr leben.»
Die Morandi-Brücke am Tag nach der Katastrophe: