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Vor einem Jahr versuchten seine Gegner, Recep Tayyip Erdogan zu stürzen. Heute ist der Präsident mächtiger denn je. Wie junge Türken versuchen, sich mit dem autoritären Staat zu arrangieren – eine Reportage.
Ayca Telgeren sass mit Freunden in Istanbul bei Whisky und einer Käseplatte, als Soldaten am 15. Juli letzten Jahres die Bosporusbrücke besetzten. Ungläubig verfolgten die Malerin und ihre Freunde die ersten Meldungen vom Putschversuch. Erst als Kampfjets im Tiefflug über sie hinweg rasten und Scheinangriffe auf die Stadt flogen, wurde ihnen der Ernst der Lage bewusst.
Ayca schlief in dieser Nacht nicht, und als die Sonne aufging, holte sie ihre Reisetasche heraus und begann zu packen: Raus aus der Türkei! «Doch dann fiel mir ein, dass mein Reisepass seit zwei Monaten abgelaufen war und dass ich nicht genug Geld hatte, um anderswo neu anzufangen», erinnert sich die 42-Jährige. «Ich dachte an all die halb fertigen Werke in meinem Atelier – und da wurde mir klar, dass ich bleiben würde.» Eine ungeheure Verzweiflung habe sie da ergriffen, erzählt Ayca.
Einige der Bilder hat Ayca inzwischen fertig gemalt, andere hat sie aufgegeben und wieder andere neu begonnen. Das Leben ist weitergegangen, aber es hat sich verändert. Statt in ihrem Atelier im asiatischen Stadtteil Kadiköy über dem Bosporus sitzt Ayca heute in einem versenkten Garten unterhalb einer verkehrsreichen Strasse im europäischen Stadtteil Levent – einem Kunstwerk ihrer Kollegin Sevgi Aka im Künstlerkollektiv HAH. Mit abgestorbenem Gestrüpp und grellen Plastikpflanzen hat Sevgi den Garten geschmückt, um den Kunstrasen und die Polyesterfelsen am künstlichen Teich ironisch zu betonen. Die «falschen kleinen Utopien» will Sevgi damit thematisieren, in die sich die Menschen in der Türkei jetzt allenthalben zurückziehen: «Meine Bekannten reden alle nur noch über Tiere und Pflanzen», erzählt die 32-jährige Künstlerin.
Ayca und Sevgi haben sich selbst zurückgezogen in dieses Kollektiv, das sie zum Jahreswechsel mit vier weiteren Künstlern gegründet haben, um in dieser schweren Zeit nicht allein sein zu müssen. Jeden Donnerstag verbringen sie zusammen in der Kellerwohnung hinter Sevgis Garten, wo jeder an einem Kunstwerk arbeitet – unabhängig voneinander und doch thematisch und spirituell verbunden. In Arbeitspausen sitzen sie zusammen in dem Garten, der «falschen kleinen Utopie», trinken selbst gemachte Limonade mit Ingwer und Minze und reden sich die Angst und die Verzweiflung von der Seele.
Die Angst hängt in der Luft in diesen Tagen, vielleicht mehr noch als in jener Nacht vor einem Jahr. Der Schock vom Putschversuch sitzt allen noch in den Knochen wie nach einem Erdbeben – dasselbe Gefühl, dass auf den Boden unter der Türkei kein Verlass ist, dass alles augenblicklich ins Wanken geraten kann. Dazu der Terror der Bombenanschläge, die Istanbul serienweise erschüttert haben – auf den Flughafen, die Fussgängerzone, das Fussballstadion, auf eine Disco.
Einmal sei sie in Panik aus der U-Bahn gesprungen, als sie einen verdächtigen Mann mit Rucksack sah, und habe sich dann furchtbar geschämt, weil sie die anderen Passagiere nicht gewarnt habe, erzählt die 32-jährige Defne Tesal, die ihre Bilder und Installationen aus textilen Materialien fertigt. «Das ist es, was die Angst mit uns macht», sagt die Performance-Künstlerin Gizem Kakaras: «Entsolidarisierung, Vereinzelung, Vereinsamung.»
- In den späten Abendstunden des 15. Juli versucht das türkische Militär, Präsident Erdogan zu stürzen. Das Parlament in Ankara wurde beschossen, in Istanbul blockierten die Putschisten eine der Bosporus-Brücken, und im Staatsfernsehen liessen sie eine Erklärung verlesen, in der sie die Macht für sich beanspruchten.
- Erst am Morgen des 16. Juli zeigte es sich, dass der Putsch gescheitert war, weil der grösste Teil der türkischen Streitkräfte nicht hinter der Putschisten stand und auch die Bevölkerung Widerstand leistete.
- Es war der blutigste Putsch in der an Staatsstreichen reichen türkischen Geschichte. Nach offiziellen Angaben starben 250 Menschen, grösstenteils Zivilisten.
- Erdogan macht seinen einstigen Verbündeten und heutigen Erzfeind, den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen, für den Umsturzversuch verantwortlich.
- Sofort nach dem gescheiterten Putsch verhängte Erdogan den Ausnahmezustand, der heute noch in Kraft ist. Ausserdem setzte er eine beispiellose Entlassungs- und Verhaftungswelle gegen mutmassliche Gülen-Anhänger in Gang, die bis heute andauert.
- Die wahren Hintergründe des Putschversuchs liegen bis heute im Dunkeln. Die türkische Opposition spricht von einem «kontrollierten Putsch» und wirft der Regierung vor, die eigene Verwicklung verschleiern zu wollen.
Das Kollektiv will dagegenhalten. «Zusammensein, Solidarität, Austausch – das ist für uns derzeit das Wichtigste», sagt die Malerin Ahu Akgün. Und damit seien die sechs Freunde nicht allein, erzählt Gizem, die in einer Galerie arbeitet und gut vernetzt ist in der türkischen Szene: Allenthalben würden derzeit Kollektive gegründet, «das ist ein richtiger Trend geworden». Aus der Not geboren ist dieser Trend, denn die Spielräume nach aussen werden immer enger, seit nach dem Putschversuch der Ausnahmezustand verhängt wurde. Der Boden von Recht und Gesetz ist seither zu Treibsand geworden, in dem man jeden Moment versinken kann.
Ayca erzählt von einem Bekannten, einem Ingenieur, der gerade freigelassen worden ist. Der junge Mann hatte in einem Copyshop einen kritischen Artikel über Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kopiert, wurde von einem Angestellten des Ladens bei der Polizei verpfiffen und sass 27 Tage hinter Gittern, bevor die Staatsanwaltschaft die Sache fallen liess. «Unter dem Ausnahmezustand kannst du jederzeit festgenommen werden, ohne Grund», sagt Gizem.
Fast jeder kann solche Geschichten erzählen, von Verwandten oder Bekannten oder von sich selbst. Ayca hat auch schon eine Nacht in Polizeihaft verbracht, weil sie mit einem Slogan auf dem T-Shirt gegen die Abholzung eines Waldstücks in ihrem Stadtteil auf dem asiatischen Ufer protestierte. Das war noch bevor der Ausnahmezustand verhängt wurde und damit technisch illegal – der Staatsgewalt aber scheissegal: «Sie wollen dich wissen lassen, dass sie es dennoch können», sagt die Malerin. Die Botschaft kam an: Es war das Ende ihrer kurzen Laufbahn als politisch engagierte Bürgerin.
Begonnen hatte Aycas politisches Engagement bei den Demonstrationen gegen die Zerstörung des Gezi-Parks im Sommer 2013 – ein politisches Erwachen für eine Generation von Türken und auch für Ayca. «Bis Gezi sah ich die Politik als einen Bildschirmschoner, hinter dem unbekannte Programme laufen», erzählt die Malerin, während sie sich im Garten eine Zigarette dreht, das schwarze Haar locker hochgesteckt und die Träger ihres Sommerkleides leicht verrutscht. «Aber bei den Gezi-Protesten habe ich verstanden, dass wir selbst aktiv werden müssen.» Die Malerin legte den Pinsel beiseite, trat der neu gegründeten Gezi-Partei bei und stürzte sich in die Basisarbeit. «Zwei Jahre lang habe ich hart dafür gearbeitet», erzählt sie. Doch als nach den Wahlen vom Sommer 2015 die Repressionen einsetzten, brach die junge Partei rasch ein.
Wie es weitergehen soll, das können die Freunde nicht absehen. Der Boden schwankt nicht nur, er wird regelrecht unter ihnen fortgerissen. Erst vor drei Monaten hat das Kollektiv aus seinem ersten Atelier am asiatischen Ufer ausziehen müssen, weil das Haus abgerissen wird – ein Dominostein in den gigantischen Stadterneuerungsprojekten von Istanbul, mit denen die Regierungspartei die Stadt nach ihren Vorstellungen umbaut. Nun soll auch dieses Haus in Levent abgerissen werden; die meisten Bewohner sind schon ausgezogen. Es geht ohnehin zu Ende mit dem Kollektiv. Murat und Defne ziehen in zwei Monaten nach Holland. Sevgi geht voraussichtlich nach Frankfurt, um ihre Doktorarbeit abzuschliessen.
«Das ist jetzt überall so», seufzt Gizem: Zwei jüdische Kollegen aus ihrer Galerie haben sich spanische Pässe besorgt, ein betuchterer Bekannter hat sich die portugiesische Staatsbürgerschaft erkauft. Und bis der Sommer vorbei ist, wird die Hälfte ihres Freundeskreises die Türkei verlassen haben. «Die Leute glauben nicht mehr an eine Zukunft hier», sagt Ayca. Wer nicht ins Ausland könne, der ziehe sich ins Private zurück oder aufs Land. Sie selbst sieht das nicht anders, denn was morgen sein wird in der Türkei, das kann niemand absehen: «Ich habe keine Zukunft mehr, wie meine Eltern sie noch hatten.» Für sich selbst hat sie deshalb nach dem Putschversuch und ihrer missglückten Flucht entschieden, nur noch für den Tag zu leben. Jeden Morgen sagt sie sich beim Aufwachen, dass sie nur diesen Tag leben und das Beste daraus machen will – es könnte schliesslich ihr letzter sein. «Das hat bisher funktioniert», sagt die Künstlerin mit einem schiefen Lächeln. «Wir leben noch.»