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Unser Korrespondent reiste quer durch die Republik und traf auf ein Volk voller Trauer – und Entschlossenheit.
Überlebensgrosse Porträts von Märtyrern aus dem Krieg gegen den Irak hängen vor dem imposanten Amir-Chakmak-Portal im Zentrum von Yazd. Die zentraliranische Stadt trauert – und feiert. Mit dem Arbain-Fest beenden die Menschen der Stadt die vierzigtägige Trauerperiode für den Imam Hussein, einen der Stammesväter der Schiiten. In diesem Jahr fällt die Feier fast mit dem Todestag des Propheten Mohammed zusammen. Die Zeit ist den Iranern heilig.
Doch die Märtyrer-Porträts drücken auf die feierliche Stimmung. Vor mehr als 30 Jahren hatten sich die abgebildeten jungen Männer als Frontfreiwillige den besser ausgerüsteten Truppen des irakischen Herrschers Saddam Hussein entgegengestellt. «Ihr Blut ist nicht umsonst geflossen», mahnen Spruchbänder die Passanten. Dass die Bilder ausgerechnet zum Arbain-Fest angebracht wurden, sei kein Zufall, sagt Mohsen, unser Guide. Wie die jungen Märtyrer sei auch der Enkel des Propheten Mohammed von einer «Übermacht arabischer Ungläubiger» niedergemetzelt worden, damals, in der blutigen Schlacht um die irakische Stadt Kerbala.
Unter der Niederlage im Jahre 680, die die Spaltung des Islam in Schiiten und Sunniten endgültig besiegelte, leiden die Schiiten bis heute. Gleichzeitig schöpfen sie aber auch Kraft und Zuversicht aus der Tragödie. Die Schiiten sehen sich in der Opferrolle – einer Opferrolle, die anlässlich des Todestages von Imam Hussein jedes Jahr aufs Neue mit gewaltigen Massenprozessionen kultiviert wird.
Auch in Yazd ziehen Tausende durch die Strassen. Im Rhythmus dumpfer Trommelschläge schlagen sich die Gläubigen mit der Handfläche auf die Brust und die Stirn, um die Leiden Husseins nachzuempfinden. Wer es sich leisten kann, reist in den Irak, nach Kerbala, wo dieses Jahr über 25 Millionen Schiiten zum Schrein des verstorbenen Imams pilgerten.
Bilder der Aufmärsche zeigte die «Tehran Times» auf ihrer Titelseite und schrieb: «Kerbala repräsentiert das wahre Gesicht des Islam, welches Frieden und Bruderschaft ist.» Das bewiesen die (schiitischen) Feierlichkeiten in Kerbala eindrücklich.
Die Aggressoren, lautet die versteckte Botschaft, das waren seit der Frühzeit des Islam immer die Sunniten. «Und das ist auch noch heute so», betont unser Guide. «Schauen Sie nach Saudi-Arabien oder nach Syrien, wo die sunnitischen IS-Kämpfer uns Schiiten wegen unseres Glaubens die Köpfe abschneiden.» Ob sich die Geschichte jetzt wiederhole, will ein älterer Herr wissen. «Nicht ganz», antwortet Mohsen: «Wir sind jetzt stark genug, um uns zu wehren.»
Trotz arabischer und westlicher Rückendeckung habe Saddam Hussein den Iran nicht besiegen können. Mehr als 30 Jahre später stehen iranische Soldaten im Irak und Syrien. Hätte man den IS nicht in seinen Ursprungsländern bekämpft, wäre er in den Iran einmarschiert – wie einst Saddam. Das behauptet der iranische Revolutionsführer Ali Khamenei. Er spricht von «Vorwärtsverteidigung». Und die bezahlt der Iran mit einem hohen Blutzoll: Der Krieg in Syrien kostete mehr als 2000 Iraner das Leben. Über ihr Schicksal wurde lange geschwiegen.
Seitdem der IS den 25-jährigen Iraner Mohsen Hojaji enthauptete und das Video seiner Hinrichtung online veröffentlichte, sind auch die im Syrienkrieg gefallenen iranischen Soldaten nicht mehr anonym. Wie einst der Imam Hussein bei Kerbala habe auch Mohsen Hojaji keine Furcht gezeigt, als ihn die Terroristen mit dem Schwert ermordeten, erzählt unser Guide. Dass sein Tod der herrschenden Geistlichkeit durchaus gelegen kommt und propagandistisch ausgeschlachtet wird, verschweigt er.
Ortswechsel: Maschhad, die zweitgrösste iranische Stadt. Hier steht das Grabmal von Imam Reza, dem wichtigsten Heiligen der Schiiten. Überall treffen wir auf Familien. Die Menschen haben es sich auf Gebetsteppichen bequem gemacht, lächeln, meditieren oder weinen aus Dankbarkeit. «All die Menschen kommen hierher, um mit dem Imam Reza zu sprechen», sagt Mohsen und zeigt auf eine Frau, die ihr Handy an das silberne Gitter des Grabmals hält, damit auch ihre zu Hause gebliebenen Angehörigen dem Imam ihre Sorgen und Nöte anvertrauen können.
Auf den Plätzen draussen wollen alle mit den angereisten Ausländern ins Gespräch kommen. Eine Schönheitschirurgin erzählt in fliessendem Französisch über den «Wahn» der Iraner, ihre Nasen zu verkleinern. Ein Student erkundigt sich nach Arbeitsmöglichkeiten in der Schweiz, da die Wirtschaft hier lahme.
Auch der sich zuspitzende Konflikt mit Saudi-Arabien kommt immer wieder zur Sprache. Trotz der Allianz zwischen den USA und der saudischen Führung werde sich «an den Machtverhältnissen am Persischen Golf» nichts verändern, verspricht uns Fereschdeh, eine Studentin aus Schiraz. «Wir sind ihnen überlegen, in allen Belangen», behauptet die junge Iranerin kühn.
Vielleicht am deutlichsten spürt man diese kulturelle Überlegenheit, auf die der Iran seinen Hegemonialanspruch in der Golfregion stützt, am Mausoleum des persischen Nationaldichters Hafis in Schiraz. Es steht in einer wunderbaren Parkanlage. Die Iraner besuchen das Grabmal nicht, um zu trauern, sondern um ihrem Helden nahe zu sein und aus dem «Diwan des Meisters» zu rezitieren.
Das tut auch die junge Fereschdeh, nachdem sie minutenlang in tiefer Trance ihre Hände auf den marmornen Sarkophag des Dichters gelegt hatte. «Die Furcht des Todes bin ich los», beginnt sie mit lauter Stimme, «für alle Zeit, denn ich genoss, des Lebens Wasser, das so hell entströmet deinem süssen Quell». Die Umstehenden klatschen begeistert. In Schiraz wird das Leben und nicht der Tod gefeiert.