Frankreich
Einzigartiger Weihnachtsbrauch: In Frankreich spielt Vater Staat «Père Noël»

In Frankreich schüttet «Père Noël» sein Füllhorn nicht zuletzt im Auftrag des Staates aus. Rund 2,2 Millionen bedürftige Franzosen erhalten seit gestern Mittwoch eine sogenannte «Weihnachtsprämie».

Stefan Brändle, Paris
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Die Prämie beträgt 152.45 Euro für eine alleinstehende Person, 381.13 Euro für eine fünfköpfige Familie. Nutzniesser sind unter anderem ausgesteuerte Arbeitslose, mittellose Rentner oder alleinerziehende Mütter mit tiefem Einkommen.

Eingeführt hatte die «prime de Noël» der sozialistische Premierminister Michel Jospin im Jahr 1998, und zwar auf Druck von Arbeitslosenverbänden. 15 Jahre nach ihrer Einführung macht sie in Paris kaum mehr Schlagzeilen. Sie ist eine von vielen Prämien geworden, mit der die Nation für ihre Bürger sorgt.

Mindestlohn: 10 Cent mehr pro Stunde

In Frankreich steigt das gesetzliche Mindesteinkommen (Smic) ab 1. Januar von 9.43 auf 9.53 Euro pro Arbeitsstunde. Auf den Monat berechnet beträgt das monatliche Mindestsalär neu 1113 Euro. Das ist weltweit der höchste Wert eines Mindesteinkommens. In Frankreich sind 3,1 Millionen Angestellte davon betroffen - 13 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung. Die Anhebung um 1,1 Prozent liegt leicht über der Jahresteuerung und war von Gesetzes wegen vorgesehen. Die Gewerkschaften verlangten allerdings seit Wochen, dass die Regierung den Mindestlohn mit einem «coup de pouce», einer Art konjunktureller Nachhilfe, bedeutend stärker erhöhe, um die Binnennachfrage anzukurbeln. Der Vorsitzende von Force Ouvrière, Jean-Claude Mailly, erinnerte Präsident François Hollande an sein Versprechen, das Mindestsalär stärker als sein konservativer Vorgänger Nicolas Sarkozy zu erhöhen. Schon vor Wochen hatte eine Expertengruppe der Regierung aber von einer stärkeren Erhöhung abgeraten. Sie meinte, dies würde die Firmen von Neueinstellungen abhalten und ihre Wettbewerbsfähigkeit schmälern. Der Regierungsberater Francis Kramarz vom Forschungszentrum Crest rechnete diese Woche vor, eine Smic-Erhöhung um ein Prozent koste 15 000 bis 25 000 Arbeitsplätze. Leidtragende seien vor allem jugendliche Berufseinsteiger ohne Diplom und Erfahrung. In Frankreich wird seit Jahren diskutiert, ob für diese Kategorie ein «Smic jeune», das heisst ein Mindestlohn für Jugendliche, geschaffen werden soll. (brä)

Nur fürs Sterben keine Prämien

Wer in Frankreich lebt, erhält auf seinem Lebensweg eine Vielfalt solcher Zulagen – zum Teil unabhängig von seinen Einkünften. Bei der Geburt gibt es zum ersten Mal Geld, danach auch für die Krippe, die man in Frankreich oft schon ab sechs Monaten besucht. Später für den Kindergarten und natürlich für die Schule. Jeden Herbst erhalten bedürftige Eltern zum Beispiel eine «Schulbeginn-Prämie», damit sie den Sprössling mit Tornister, Zirkel und Nintendo ausrüsten können. Der Staat denkt an alles: Wer umzieht, erhält je nach Einkommen eine «Umzugsprämie», wer sein Haus heizt, eine «Tankprämie», und wer verreist, eine «Urlaubsprämie». Rentner haben Anspruch auf bis zu zehn «primes». Nur fürs Sterben gibt es in Frankreich keine Prämie mehr.

Franzosen erwarten alles vom Staat

Dank seiner Grosszügigkeit ist Frankreich der grösste Sozialstaat der Welt. Ein drittel Prozent der Wirtschaftsleistung – das ist Weltrekord – fliesst in die Kinderhilfe, die Renten, die Arbeitslosenversicherung oder eben die Sozialprämien. Auch in der Familienpolitik ist die «Grande Nation» seit den Weltkriegen führend: Um die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftskraft zu erhöhen, fördert der französische Staat seit bald einem Jahrhundert bewusst Kinderhorte und Tagesschulen, sodass im Prinzip jede Mutter arbeiten kann.

Eine solche Politik, die als Kehrseite eine im Euro-Raum unerreichte Steuerlast zur Folge hat, wird von der Bevölkerung nur akzeptiert, wenn der Glaube an die Staatsrolle da ist. Und in Frankreich ist er vollkommen. Franzosen erwarten alles vom Staat – sogar ihr Glück: Der konservative Präsident Nicolas Sarkozy beauftragte Nobelpreisträger Joseph Stiglitz mit der Prüfung der Frage, ob bei der Berechnung des Bruttoinlandproduktes nicht ein «Zufriedenheitsfaktor» mitspielen sollte.

Dass der Staat die Bürger aushorcht und überwacht, schockiert die Franzosen keineswegs: Während Paris jüngst den amerikanischen Botschafter vorlud, um gegen die amerikanische Digital-Bespitzelung zu protestieren, hält sich kaum jemand darüber auf, dass der französische Geheimdienst vor wenigen Tagen genau die gleichen Kompetenzen erhalten hat.

Nach französischem Selbstverständnis ist der «État» jenes Ganze, das die Ansichten des Individuums vereinigt. Er verkörpert Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und vermittelt ein Gefühl des Aufgehobenseins. Deshalb kümmert sich der französische Staat um alles, und deshalb verteilt er Prämien für alle Lebenslagen.

Ohne Prämie kein Geschenk

Heute mehrt sich zwar die Kritik an dieser «republikanischen» Grosszügigkeit. Aber Sparzeiten sind auch Krisenzeiten, und jedes Jahr zeigt sich von neuem, dass etwa die Weihnachtsprämie kein Luxus ist. Auf einem Internetforum rechnete eine junge Frau auf den Euro genau vor, wie sie mit ihren zwei Kleinkindern über die Runden kommt, nachdem ihr Mann sie verlassen hat. Aus Teilzeitarbeit und Sozialprämien bezieht sie 767 Euro. Davon entfallen 583 Euro auf Miete, Rechnungen, Steuern und Telefon. Es verbleiben 184 Euro für den Alltag, Essen inklusiv. Dank der «prime de Noël» erhält die Familie 274 Euro, umgerechnet 335 Franken. «Sonst gäbe es für die Kleinen keine Weihnachtsgeschenke», meint die Französin.

Ein Einzelfall ist das nicht. Laut einer «Armutskonferenz» in Paris zählt das Land heute 8,6 Millionen Erwachsene, die mit weniger als 1000 Euro (1220 Franken) im Monat leben. Von ihnen erhält nur ein Viertel die begehrte «prime de Noël». Die anderen sechs Millionen gehen leer aus. Und ihre Kinder an Weihnachten wohl auch.