EU: Aufstand gegen den Strippenzieher

Der Deutsche Martin Selmayr ist Brüssels einflussreichster Beamter und gilt als «Graue Eminenz». Nach einer steilen Beförderung stehen er und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in der Kritik.

Remo Hess, Brüssel
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Martin Selmayr, Generalsekretär der EU-Kommission. (Bild: EPA)

Martin Selmayr, Generalsekretär der EU-Kommission. (Bild: EPA)

Nein, den Namen Martin Selmayr muss man nicht kennen. Schliesslich ist er einer der über 30'000 EU-Beamten, die ihrer Funktion gemäss hinter den Kulissen des politischen Betriebs agieren. Doch seit einigen Wochen kommt der 47-jährige Deutsche aus den Schlagzeilen nicht mehr heraus. Grund sind die merkwürdigen Vorgänge rund um seine Beförderung vom Stabschef des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker auf den Posten des höchsten EU-Beamten überhaupt, dem Generalsekretär der EU-Kommission.

Die linke französische Tageszeitung «Libération» spricht von einem «Putsch», internationale Leitmedien wie die «Financial Times» oder die «Süddeutsche Zeitung» widmen dem «Eurokraten» umfangreiche Artikel. Das EU-Parlament hielt vergangene Woche sogar eine Sonderdebatte ab, und der Haushaltskontrollausschuss hat nicht weniger als 134 Fragen aus den Reihen der EU-Abgeordneten zur «Affäre Selmayr» gesammelt.

«Rasputin von Brüssel»

Was war geschehen? Ende Februar wurde Selmayr in einer Kommissionssitzung zum stellvertretenden EU-Generalsekretär ernannt. Gegenkandidaten, wie es das ­Reglement vorsieht, gab es keine. Dann, wie aus dem Nichts, trat der amtierende Generalsekretär, der Niederländer Alexander ­Italianer, zurück. Selmayr konnte nachrutschen. Das Resultat ist eine Doppelbeförderung innert weniger Minuten, für die man eigentlich ein ganzes Beamten­leben braucht.

Jetzt wäre das Ganze kaum so schlimm, wenn Selmayr nicht ­Selmayr wäre. In seiner Zeit als Junckers rechte Hand hat er so viel Macht akkumuliert, dass es manchen in Brüssel unheimlich wird. Selmayr, so heisst es, sei der eigentliche Chef im Haus. Der «Rasputin von Brüssel» ist nur einer der Übernamen, die ihm die Presse verliehen hat. Man könnte ihn aber auch den «Chuck Norris der EU-Kommission» nennen. Denn wie der US-Actionstar kann Selmayr zum «Round-House-Kick» ansetzen, wenn ihm einer dazwischenfunkt.

Hohe Kader-Mitarbeiter soll er ebenso in den Senkel stellen wie EU-Kommissare – immerhin teils gestandene Premierminister. Einem «Spiegel»-Journalisten habe er unlängst offenbart, dass er ihm nach einem irreführenden Artikel am liebsten «in die Fresse ge­hauen» hätte, heisst es. Auch das Powerplay gegenüber der Schweiz nach dem verpatzten Juncker-­Besuch vom vergangenen November trägt Selmayrs Handschrift.

Auf die Kritik an seinem Führungsstil kontert der promovierte Jurist, die EU-Kommission sei «keine Montessori-Schule». Und tatsächlich wird es unter den Tausenden von Brüsseler Karriere­beamten noch so einige geben, die zur Durchsetzung ihrer Interessen allerlei machiavellistische Manöver zur Anwendung bringen.

Undurchsichtigkeit im Hort der Transparenz

Ein in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit zentrales Problem ist hier bloss, dass sich die Juncker-Kommission einerseits als Hort der Transparenz und Verteidigerin der Rechtstaatlichkeit inszeniert. Auf der anderen Seite führt sie selbst undurchsichtige Operationen im Graubereich der Reglementstreue durch.

Einige Beobachter sagen ­Juncker deshalb schon dasselbe Schicksal voraus wie seinem Vorgänger Jacques Santer, der 1999 nach Korruptionsvorwürfen und Mauscheleien mit seiner Kommission in corpore zurücktreten musste. Bislang hat die Geschichte aus­ser­halb der Euro-Blase noch kaum Wellen geworfen. Im Kreis der Mitgliedstaaten sind viele der Ansicht, dass es Juncker als Kommissionspräsident zustehe, seine Top-Posten mit Beamten frei nach seiner Wahl zu besetzen. Ob die Regeln nun etwas strapaziert wurden oder nicht – Haarspalterei. Zwar sind längst nicht alle mit der herausragenden Rolle Selmayrs zufrieden, notabene in Berlin, wo der EU-Turbo vielen übers Ziel hinausschiesst.

Doch hört man immer wieder, es sei eine gute Sache, dass die notorisch chaotische EU-Kommission unter Selmayrs Zutun zu einer effizienten Maschine umgebaut wurde. In Zeiten der Poly­krise mit Brexit, Flüchtlingswelle und Griechenlands Beinahe-Bank­rott hat sich das bewährt.

Remo Hess, Brüssel