Bürgerkrieg, Chaos, Unruhen
EU streitet über Politik gegenüber Nordafrika – warum die Zeit drängt

Trotz Bürgerkrieg in Libyen, Chaos im Sudan und Unruhen in Algerien: Brüssel hat keine einheitliche Position.

Pierre Heumann
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Migranten in einer Strafanstalt nahe der libyschen Stadt Misrata: Europa weiss nicht, wie es der Lage Herr werden will. KEY

Migranten in einer Strafanstalt nahe der libyschen Stadt Misrata: Europa weiss nicht, wie es der Lage Herr werden will. KEY

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Es müsste eigentlich die Stunde der Europäer sein. Vor ihren Toren spielen sich, wieder einmal, Dramen ab. Im Sudan und in Algerien werden Langzeitdiktatoren gestürzt, in Libyen droht ein neuer Bürgerkrieg. Da wäre es im Interesse der EU, sich auf eine einheitliche Strategie gegenüber den Ereignissen in Nordafrika zu einigen. Doch sie schafft es nicht. So brauchte die Europäische Union ganze vier Tage, um sich auf ein gemeinsames Kommuniqué zu Libyen zu einigen.

Die EU, die sich sonst vor allem im Nahen Osten gerne als Power Broker profiliert, bleibt jetzt gegenüber dem neuen nordafrikanischen «Frühling», der nicht viel Gutes verspricht, so passiv und unentschlossen, als ob sie das alles nichts anginge.

Dabei liegt den nordafrikanischen Umwälzungen ein Problem zugrunde, für das sich Brüssel ganz besonders interessieren müsste: Ökonomie. Algerier, Libyer und Sudanesen brauchen dringend Jobs. In Algerien machen die unter 30-Jährigen 60 Prozent der Bevölkerung aus. Noch prekärer ist es im Sudan, wo 60 Prozent jünger als 24 Jahre alt sind. Stabilität und Ruhe würden voraussetzen, dass Millionen von neuen Arbeitsplätzen geschaffen werden, um der Jugend Perspektiven zu eröffnen. Wenn die nicht entstehen, steigen die Anreize zur Flucht nach Europa.

Die Zeit drängt: Nach monatelangen Protesten hat die Armee im Sudan den Langzeitdiktator Omar al-Baschir zum Rücktritt gezwungen und selbst die Macht übernommen. In Libyen bedroht indes Marschall Khalifa Haftar mit seinem Vorrücken auf Tripolis die international anerkannte Regierung, was erneut einen Bürgerkrieg auslösen könnte.

Während die Europäer streiten, spitzt sich die Lage in Libyen dramatisch zu. Libyens starker Mann, Marschall Khalifa Haftar, rückt seit dem 4. April nach Tripolis vor, dem Sitz der international anerkannten Regierung von Premier Fayez al-Sarraj. Haftar kontrolliert den grössten Teil des Landes, auch die ölreichen Regionen.

Sarraj weiss zwar, dass er auf die Unterstützung der Vereinten Nationen zählen kann, die ihn als Pfeiler einer neuen Ordnung in Libyen sehen. Aber er hat keine Mittel, um diesen Anspruch durchzusetzen, zumal er nicht einmal die Hauptstadt im Griff hat. Dort herrschen Pro-Haftar-Milizen und radikale Islamisten.

Machtlos ist auch die UNO. Seit vier Jahren versucht sie, Libyen zu stabilisieren, hat damit aber keinen Erfolg. So bezeichnet Ghassan Salamé, der UNO-Sondergesandte für Libyen, in Zeitungsinterviews schon die Tatsache als positiv, dass die Präsenz bewaffneter Gruppen in Regierungsgebäuden «erheblich zurückgegangen» sei.

Demgegenüber fehlt dem «Warlord» Haftar zwar die internationale Legitimation, aber er kann auf einflussreiche Sympathisanten und Förderer zählen.

Tatkräftig unterstützt wird Haftar vor allem vom ägyptischen Präsidenten al-Sisi sowie von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sie erhoffen sich von Haftar unter dem Titel «Kampf gegen den Terror» ein Ende der Unruhen im wichtigen nordafrikanischen Staat.

Vor den Toren Europas

Doch ausgerechnet in Libyen, dem Einfallstor für Flüchtlinge nach Europa, ziehen die EU-Mitglieder Frankreich und Italien nicht am selben Strick. Dabei habe die neue Krise das Potenzial, die bisherige Flüchtlingspolitik der italienischen Regierung über den Haufen zu werfen, warnen Experten. Mehrere 100 000 Menschen halten sich in Libyen auf, die nach Italien flüchten wollen.

Die Uneinigkeit unter EU-Mitgliedern wird offen ausgetragen – aber nicht gelöst. Frankreich habe kein Interesse, Libyern zu einem besseren Leben zu verhelfen, behauptet Italiens Innenminister Matteo Salvini, während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Italiens Libyen-Politik als «zynisch und verantwortungslos» kritisiert. Für die Italiener ist Sarraj die zentrale Figur im Libyen-Konflikt – doch der wird von Haftar bekämpft, mit dem Paris liebäugelt.

Auch zum Sudan fällt der Politik in Brüssel nichts ein. Auf zwei Gipfeltreffen der Afrikanischen Union in Kairo haben aber afrikanische Staatschefs diese Woche zumindest zu einer friedlichen Lösung der Probleme im Sudan aufgerufen. Der Militärrat wurde allerdings lediglich aufgefordert, nach dem Putsch gegen Baschir die Macht an eine zivile Übergangsregierung zu übergeben. Dazu wurde den neuen Machthabern eine Frist von drei Monaten eingeräumt.

Ohne ökonomische Kenntnisse

Während die EU zögert, handeln arabische Staaten. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben den Militärs ein Investitionsvolumen von drei Milliarden US-Dollar in Aussicht gestellt. Zusätzlich wollen sie die Devisenreserven des Sudans um 500 Millionen US-Dollar aufstocken.

Die Lage in der Hauptstadt ist nach wie vor gespannt. Laut Korrespondentenberichten lehnen es Demonstranten ab, ihre Barrikaden vor dem militärischen Hauptquartier in Khartum zu räumen. Sie haben den Dialog mit den Offizieren abgebrochen und fordern die sofortige Einsetzung einer zivilen Regierung.

Zu den Protesten gegen Baschirs Regime hatten Preiserhöhungen bei Brot und Grundnahrungsmitteln geführt. Beobachter bezweifeln indes, dass die neuen Herrscher über jegliche ökonomischen Kenntnisse verfügen, die dem Land einen Weg aus der Krise weisen könnten. Stattdessen würden sich die Generäle vor allem darum kümmern wollen, ihre Macht abzusichern. Ein Hinweis darauf sei ihre Forderung, in einer möglichen künftigen Zivilregierung die Ministerien für Verteidigung und fürs Innere zu behalten. Damit hätten sie zwei Schlüsselpositionen, um das Land weiterhin zu kontrollieren.

Als Zeichen des guten Willens hat die Armee die Oppositionsgruppen zwar eingeladen, einen Zivilisten als Premierminister zu ernennen. Offen ist aber, ob der Regierungschef dem Militär über- oder untergeordnet sein werde, heisst es in einer Analyse der Jamestown Foundation.