Der Streit um die Unabhängig der polnische Justiz verschärft sich. Experten sagen, das osteuropäische Land riskiere seine EU-Mitgliedschaft zu verlieren. In Warschau aber herrscht triumphale Stimmung.
Während Jahren prägten in der Schweiz die sogenannten «fremden Richter» des Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Debatte über das Verhältnis mit der EU. Bei den Verhandlungen über das Rahmenabkommen ging es immer auch darum, ob die Luxemburger Richter die Anwendung von EU-Recht in der Schweiz kontrollieren dürfen und was das für Auswirkungen auf die nationale Souveränität hätte. Der Streit um diese «fremden Richter» war es, der den Vertrag Ende Mai schliesslich zum Scheitern gebracht hat.
Aber auch in der Europäischen Union sorgt das Verhältnis von nationalem und europäischem Recht für Spannungen. Und dies, obwohl die EU-Mitgliedsstaaten selbst Richter nach Luxemburg entsenden, es sich also nicht um «fremde», sondern eigene Richter handelt. Das zeigt jetzt das Beispiel Polen.
Konkret geht es um die polnischen Justizreformen seit der Machtübernahme der nationalkonservativen PiS-Regierung im Jahr 2015. In verschiedenen Urteilen hat der EuGH festgehalten, dass diese Reformen EU-Recht und die Grundsätze der Gewaltenteilung verletzen. Das letzte Urteil vom Mittwoch dieser Woche betrifft die dem obersten polnischen Gericht als Aufpasser beiseitegestellte und von der Regierung kontrollierte Disziplinarkammer. Sie kann die Immunität sämtlicher Richter und Staatsanwälte im Land aufheben und sie entlassen. Der EuGH kommt zum Schluss, dass diese politische Kontrolle die Unabhängigkeit der Justiz gefährde. Die Disziplinarkammer müsse ihre Arbeit einstellen.
#ECJ order of the vice-president - Action by @EU_Commission: #Poland must immediately suspend the application of national provisions relating in particular to the powers of the disciplinary chamber of the Supreme Court #RuleOfLaw (C-204/21)
— EU Court of Justice (@EUCourtPress) July 14, 2021
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Doch in Polen denkt man nicht daran, den Anweisungen aus Luxemburg Folge zu leisten. Die Antwort des ebenfalls von der PiS-Regierung kontrollierten Verfassungsgerichts lautete, das EuGH-Urteil zum «System, den Prinzipien und Abläufen» der polnischen Gerichte stünden «nicht im Einklang» mit der polnischen Verfassung. Der EU-Richterspruch habe keine Geltung und sei zu missachten, so die Verfassungsrichter.
Zahlreiche Beobachter und Rechtsexperten sind alarmiert. Zwar ist es normal, dass es in der EU zu Kompetenzkonflikten zwischen nationalen und EU-Gerichten kommt. Kürzlich stellte zum Beispiel das deutsche Verfassungsgericht die EU-Rechtsprechung zu den Geldspritzen der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Disposition. Solche Streitfälle werden aber normalerweise im Dialog gelöst. Dass ein Land die EU-Rechtsprechung offen missachtet, kam bislang nie vor.
Im polnischen Fall geht es nun auch um mehr: Nämlich um den allgemeinen Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht, was in den EU-Verträgen festgehalten ist und den Rechtszusammenhalt in der Europäischen Union garantieren soll. «Es besteht eine reale Bedrohung für die gesamte Architektur der EU», sagte Justizkommissar Didier Reynders in einem Interview. Der deutsche Professor für EU-Recht Franz Mayer kommentierte auf Twitter:
«Das wird ein Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen und je nachdem, wie das begründet wird, kann das bedeuten, dass Polen nicht mehr Mitglied der EU bleiben kann».
Und auch der polnisch-australische Verfassungsrechtler Wojciech Sadurski spricht von einem «entscheidenden Schritt Richtung rechtlichem Polexit», also einem juristischen Austritt Polens aus der EU-Rechtsgemeinschaft. Die EU-Kommission teilte mit, man werde sämtliche Instrumente im Rahmen der EU-Verträge nutzen, um die polnische Regierung zur Respektierung des EuGH-Urteils zu bringen.
We are deeply concerned by the decision of the Polish Constitutional Tribunal, which states that the interim measures ordered by the ECJ in the area of the functioning of the judiciary, are inconsistent with the Polish Constitution. Full statement here: https://t.co/OtzrpRXKeL
— Věra Jourová (@VeraJourova) July 15, 2021
Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro hingegen zeigte sich erfreut über den Entscheid aus Warschauer: «Die Verfassung und Normalität wurde gegen den Versuch der politischen Einflussnahme von EU-Organen auf die rechtliche Ordnung Polens verteidigt». Es sei «ein Entscheid gegen Einmischung, Übermächtigung und juristische Aggression», so Ziobro.
Schon im August dürfte der definitive Showdown in der Auseinandersetzung anstehen: Dann werden die polnischen Verfassungsrichter nämlich festlegen, ob die polnische Verfassung grundsätzlich und endgültig Vorrang vor EU-Recht hat. Diese Klärung hatte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki angefragt.