Flüchtlingskrise
Experte: «Europa sollte die Asylanträge vor Ort prüfen»

Der Kriminologe Andrea Di Nicola hat Menschenschmuggler rund ums Mittelmeer interviewt. Vom Militäreinsatz vor Libyen hält er nichts.

Daniel Fuchs
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Ziel Europa: Flüchtlinge auf dem Mittelmeer (Archiv)

Ziel Europa: Flüchtlinge auf dem Mittelmeer (Archiv)

SDA

Sie haben sich mit dem Schlepperwesen nach Europa befasst wie kein anderer. Kann es mit militärischen Mitteln gestoppt werden?

Andrea Di Nicola: Kaum, denn die EU-Mission gegen Menschenschmuggler soll ja ausschliesslich auf Libyen und die Gewässer davor fokussiert sein. Die Schlepper aber sind so flexibel, dass sie ihre Routen rasch verschieben können. Ich vergleiche das mit einem Bach: Ein Gesteinsbrocken stoppt das Wasser nicht, dieses sucht sich nur einen neuen Weg.

Weshalb geht die EU trotzdem diesen Weg?

Weil er einfach zu begehen ist. Libyen dient derzeit als Drehscheibe für die Flüchtlinge. Das ist aber vor allem ein geopolitisches Problem. Die Schlepper können ganz schnell wieder von anderen Standorten aus agieren. Es ist naiv zu glauben, dass man einem komplexen Problem, wie es das Schlepperwesen ist, mit einer einfachen Lösung Herr wird.

Worin liegt die Komplexität genau?

Die EU beschliesst Notfallmassnahmen für ein Phänomen, das kein Notfall ist. Seit 20 Jahren versuchen Flüchtlinge, übers Mittelmeer zu kommen. Das ist ein anhaltendes Problem, aber sicher kein vorübergehendes und damit kein Notfall. Die Faktoren, welche die Menschen dazu bringen, zu fliehen, sind massiv. Die Gründe aber, sich nach Europa zu begeben, sind sehr unterschiedlich. Zudem sind die Herkunftsländer sehr verschieden. Und auch die Schlepper agieren von einer Vielzahl von Standorten in mehreren Ländern.

Die Flüchtlinge sehen die Schlepper als ihre Helfer, die sie nach Europa bringen. Und die Schlepper selber?

Bei unseren Recherchen lernten wir einen Russen kennen, der argumentierte, wie Moses im Alten Testament die Menschen übers Meer geführt zu haben.

Niemandem käme es in den Sinn, Moses als Schlepper zu bezeichnen.

Auch die Bootsführer, welche die Flüchtlinge übers Mittelmeer bringen, sind nicht die wahren Schlepper. Sie sind nur die kleinen Fische. Über sie zu sprechen, lohnt sich gar nicht wirklich. Wenn schon, dann muss man die grossen Fische orten, die Hintermänner. Ich mache noch einen Vergleich: Kann man mit der Verhaftung von Drogendealern in Europas Städten die Kokainproduktion in Kolumbien trocken legen?

Das gelang noch nie. Soll man die Kapitäne gehen lassen, welche die Flüchtlinge übers Meer bringen?

Nein, aber man muss sich bewusst sein: Die grossen Fische sitzen in Ländern wie Ägypten, Libyen, der Türkei oder Syrien. Sie führen die skrupelloseste Reiseagentur der Welt und sind nur schwer zu fangen. Die Bootsführer aber findet man schnell. Diese kann man opfern, was wiederum nichts bringt.

Was also ist zu tun?

Europa braucht eine Vision statt einfacher Lösungen. Denn diese sind zwar bequem, jedoch ineffektiv. Dabei hat Europa viele Optionen. Eine davon läge darin, das Asylwesen neu zu strukturieren. Denn der Asylbewerber, der in Europa um Asyl bitten muss, ist die Ressource für den Menschenschmuggler. Es ist ein hoch profitables Geschäft. Und Europa nährt es mit seiner abweisenden Haltung nur noch weiter, in dem es die Asylanfragen ausschliesslich auf europäischem Boden bearbeitet.

Plädieren Sie für offene Grenzen?

Nein, obwohl offene Grenzen tatsächlich den Markt komplett trocken legen würden. Seien wir realistisch: Europa wird seine Grenzen nicht öffnen können. Dies zu fordern, wäre genauso naiv wie die Vorstellung, dass ein Militäreinsatz vor Libyen das Problem löse.

Was schlagen Sie also vor?

Einen pragmatischen Weg, der den Schleppermarkt uninteressanter macht. Europa sollte die Asylanträge vor Ort prüfen.

Im unstabilen Nordafrika? Wie soll das gehen?

Ich denke eher an die Türkei, das Transitland für viele Flüchtlinge, etwa aus Syrien.

Was bitte führt Sie zur Annahme, abgewiesene Migranten würden die Überfahrt nach Europa sein lassen?

Ein paar vielleicht schon. Asylzentren in den Nachbarsländern der Krisengebiete würden den Menschenschmuggel zwar nicht stoppen, das Leben der Schmuggler aber erschweren.