Feriengebiete
In Grossbritannien steigen die Corona-Infektionen rasant – der Tourismuschef warnt: «Kommen Sie nicht zu uns»

Besonders in den Feriengebieten wie Cornwall ist die Sorge vor einer neuen Welle gross. In London herrscht Panik.

Sebastian Borger, London
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In London drängen sich sich die Zuschauer vor dem Buckingham Palace (23. August 2021)

In London drängen sich sich die Zuschauer vor dem Buckingham Palace (23. August 2021)

Alberto Pezzali / AP

Angesichts stetig steigender Corona-Infektionszahlen und Corona-Todeszahlen nimmt in Grossbritannien die Nervosität zu. Alarmierende Daten aus Schottland lassen für den mehr als zehnmal so bevölkerungsreichen Landesteil England Schlimmes befürchten, wenn kommende Woche das Schuljahr beginnt. In der Londoner Regierung unter Premier Boris Johnson herrscht Medienberichten zufolge zudem Frustration über ihre wissenschaftlichen Experten. Deren zögerliche Haltung hat dazu geführt, dass die Impfrate auf der Insel hinter einer Reihe anderer europäischer Länder zurückbleibt.

Seit vergangenen Monat in England, im August auch in Schottland sowie Wales und Nordirland sämtliche Corona-Einschränkungen abgeschafft wurden, leben die Briten mit hohen und zuletzt scheinbar unaufhaltsam ansteigenden Covid-Zahlen. In England verzeichnete das Gesundheitsministerium täglich durchschnittlich 34000 Neuinfektionen und 108 Tote. Die landesweite Inzidenz lag am Freitag bei 350, wobei die Bezirke stark differieren. Einsame Spitzenreiter sind die Ferienregionen Fermanagh in Nordirland (1043) und das liebliche Cornwall im Westen Englands (828). Der Leiter der örtlichen Tourismusbehörde Visit Cornwall flehte deshalb seine Landsleute an, um Himmels willen nicht in die Grafschaft zu reisen.

Dabei verheisst die Vorhersage für dieses verlängerte und letzte Ferienwochenende nach einem kühlen und verregneten August endlich einigermassen stabiles, warmes Wetter. Zehntausende junger Leute haben Tickets für Musikfestivals gekauft, Millionen dürften für Kurztrips im Land unterwegs sein. Ein Anschwellen der Infektionen ist beinahe unausweichlich.

Banges Warten auf den Schulbeginn

Wird der Schulanfang in England die Lage nochmals dramatisch zuspitzen? Die Befürchtung liegt nahe für all jene, die einen Blick nach Schottland werfen. Dort sind Kinder und Jugendliche bereits vor knapp zwei Wochen in die Klassenzimmer zurückgekehrt, hat der Alltag im Arbeitsleben begonnen. Prompt schossen die Covid-Kennziffern in die Höhe. Letzte Woche lag die Zahl der Neuinfektionen an drei Tagen höher als zur schlimmsten Pandemiezeit im April 2020 oder Januar dieses Jahres. Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sprach am Freitag von einer «besorgniserregenden Entwicklung». Niemand wolle zu Einschränkungen oder Lockdowns zurückkehren, beteuerte die Regierungschefin und mahnte die Bevölkerung zu Abstand: «Wenn wir uns alle vernünftig benehmen, schaffen wir das hoffentlich.»

Auf mehr Flexibilität ihrer wissenschaftlichen Beratergremien hoffen unterdessen die für England zuständigen konservativen Politiker in London. Anders als die entsprechenden Gremien in den EU-Mitgliedsländern hat das zuständige Komitee JCVI bisher der systematischen Immunisierung Minderjähriger zwischen 12 und 15 Jahren eine Absage erteilt, soweit nicht individuelle Gefährdungen vorliegen. Auch die 16- und 17-jährigen Teenager werden erst seit wenigen Wochen mit Pfizer/Biontech oder Moderna geimpft. Weil zusätzlich unter jungen Erwachsenen bis 35 Jahre die Skepsis gross ist, weshalb nicht einmal zwei Drittel bisher ihre längst fällige erste Dosis erhalten haben, ist die brillant gestartete Impfkampagne im Königreich ins Stocken geraten.

Die Briten liegen inzwischen selbst hinter Frankreich

In der Gesamtbevölkerung von 66 Millionen Menschen sind 70,4 Prozent komplett immunisiert. Im Europavergleich liegen mittlerweile nicht mehr nur Portugal (81), Spanien (76) und Irland (73) vor den Briten, sondern seit dieser Woche knapp auch der besonders misstrauisch beäugte Nachbar Frankreich (70,6).

Nach Studium der Daten plädieren nun auch als vorsichtig bekannte Wissenschafter wie die Mathematikerin Christina Pagel für ein gezieltes Impfprogramm für die 2,5 Millionen Briten zwischen 12 und 15 Jahren. Eine Studie in den USA habe eine geringe Anzahl von Fällen leichter Herzmuskelentzündungen registriert, sämtliche Patienten seien rasch genesen, berichtete die Professorin vom Londoner University College. Hingegen habe es seit 1. Mai auf der Insel 1200 Spitaleinweisungen von Covid-Kranken zwischen 6 und 17 Jahren gegeben.