Gastkommentar
Flüchtlingskrise: Nationale Abschottung ist rational

Warum begrenzen Staaten die Zuwanderung überhaupt? Die ökonomische Theorie zeigt, dass offene Grenzen zu mehr Wohlstand für alle führen.Ein Gastkommentar von Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre der Universität Hamburg.

Thomas Straubhaar
Thomas Straubhaar
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Mehrere hunderte Personen warten auf Busse an der kroatischen Grenze zu Serbien in der Stadt Babska.
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Eine Frau umarmt ein Kind, während sie auf den Bus warten.
Die kroatische Polizei bilden eine Linie. Gegenüber warten Flüchtlinge auf die Busse.
Ruf nach Menschlichkeit.
Das Friedenszeichen.
Flüchtlinge sind entlang der kroatisch-serbischen Grenze unterwegs.
Flüchtlinge besteigen einen Zug in Tovarnik (Kroatien) mit Fahrtrichtung Ungarn.

Mehrere hunderte Personen warten auf Busse an der kroatischen Grenze zu Serbien in der Stadt Babska.

Keystone

Deutschland hat wieder Grenzkontrollen eingeführt. So soll der ungebremste Zustrom der Flüchtlinge eingedämmt werden. Aber warum begrenzen Staaten die Zuwanderung überhaupt? Die ökonomische Theorie kann so wunderbar zeigen, dass offene Grenzen zu mehr Wohlstand für alle führen.

Thomas Straubhaar

Der 57-jährige Berner ist Ökonom und forscht an der Transatlantic Academy in Washington D. C. sowie am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI), dessen Direktor er bis Herbst 2014 war.

Migration von ärmeren in wohlhabendere Regionen ist nicht nur für die betroffenen Menschen selber von Vorteil, sondern sie schafft auch eine makroökonomische Win-win-Situation. Denn sie balanciert Ungleichgewichte aus. So kann die Zuwanderung – auch von Flüchtlingen – einen oft beklagten Fachkräftemangel in Europa mindern.

Und für die ärmeren Herkunftsregionen mindert die Abwanderung das Problem etwas ab, neue Jobs für die stark wachsenden jungen Bevölkerungen finden zu müssen. So, wie es der amerikanische Ökonom Charles Kindleberger schon in den 60er-Jahren beschrieben hat: «Was ist wohl klüger, wenn junge Menschen im Süden ohne Hoffnung arbeitslos bleiben, oder im Norden ihre grossartigen Talente zum Einsatz bringen?»

Die Realität sieht anders aus

Warum also verfällt die Politik dem ökonomischen Irrsinn, Grenzzäune hochzuziehen, um Menschen den Zugang zu verwehren? Dabei geht es nicht um primitive rassistische Vorurteile, die sich empirisch widerlegen lassen – weder sind Flüchtlinge ungebildet, noch streben sie nach den deutschen Sozialgeldern.

Im Gegenteil: Sie wollen für ihre Familien ein besseres und sichereres Leben aufbauen, und dafür sind sie bereit und willens, hart zu arbeiten, wenn sie denn dürfen.

Aber: Im Gegensatz zur Theorie zeigt sich in der Praxis, dass nicht alle Zuwandernden so reibungslos in der Lage sind, wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen. Beispielsweise weil sie die Sprache nicht sprechen, die verwendeten Technologien nicht kennen, die rechtlichen Spielregeln oder die gesellschaftlichen und politischen Umgangsformen nicht verstehen.

Die durch die Allgemeinheit zu tragenden Integrationskosten dürften dann keine Bagatelle sein, wenn Zuwanderung nicht langsam und vereinzelt, sondern schockartig und in Masse erfolgt.

So wie es in den letzten Wochen geschehen ist, wenn zu rasch zu viele Flüchtlinge nach Deutschland drängen. Dann dürfte selbst eine flexible Wirtschaft nicht in der Lage sein, so schnell so viele neue Arbeitsplätze für die Flüchtlinge zu schaffen.

Und wenn innerhalb eines Jahres um die 800 000 Menschen zusätzlich in Deutschland leben sollten – immerhin eine Anzahl, die grösser ist als die Einwohnerzahl der Stadt Frankfurt am Main –, wird es auch für ein wohlhabendes Land teuer, die notwendigen Kapazitäten in Kindergärten und Schulen, im Gesundheitswesen oder bei der Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen.

Konkurrenz mit Zündstoff

Dann prallen die Interessen der Aufnahmegesellschaft, vor allem der direkt betroffenen Bevölkerung in den sozialen Brennpunkten, und die Bedürfnisse der Zuwanderer, vor allem der auf öffentliche Unterstützung angewiesenen Flüchtlinge, heftig aufeinander.

Wer durch die zusätzliche Konkurrenz negativ betroffen ist oder von staatlicher Hilfe lebt, hat kaum Freude an den Integrationskosten, die mit der Zuwanderung verbunden sind. Die ohnehin stets knappen Staatskassen werden zusätzlich belastet, sodass weniger Geld für andere und anderes zur Verfügung steht, beispielsweise für die Altenpflege, die Arbeitslosen oder strukturschwache Regionen.

Eine schockartig rasche und unbegrenzte Zuwanderung ist nicht nur ein sozioökonomischer, sondern auch ein wirtschaftlicher Kostenfaktor. Anpassungs-, Integrations- und Infrastrukturkosten machen verständlich, wieso sich ökonomische Theorie und wirtschaftspolitischer Alltag widersprechen und eine Gesellschaft nicht bereit ist, die Grenzen für alle zu öffnen.

Humanität statt Profit

Allerdings sollten sich ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle auf die Arbeitsmigration beschränken. Im Asylverfahren dürfen sie keine Rolle spielen. Da geht es um Humanität, nicht um Profit. Für Flüchtlinge müssen Grenzen offen bleiben.

Jedoch sollten die Kosten einer humanitären Politik auf alle europäischen Staaten verteilt werden. Es kann nicht sein, dass sich einige zulasten anderer drücken, eine humanitäre Verantwortung wahrzunehmen, die ganz Europa zu tragen hat und auch tragen kann. Deshalb ist es nichts als richtig, eine gesamteuropäische Solidarität einzufordern und die daraus entstehenden Kosten mit einer Quotenregelung gleichmässig über ganz Europa zu verteilen.