Ein wochenlanger Streik französischer Gefängniswärter verschärft sich. Das vielfach gerne verschwiegene Motiv dahinter: Gewalttaten verurteilter Islamisten.
Stefan Brändle, Paris
Man sieht Carole die vielen Knochenbrüche in der linken Gesichtshälfte schon fast nicht mehr an. «Der Häftling fragte mich völlig ruhig, ob er mich kurz sprechen könnte», erzählte die aparte Frau, Aufseherin im Gefängnis von Tarascon (Südfrankreich), auf dem Fernsehsender Franceinfo. Sie hatte nicht mal Zeit zur Antwort auf die Frage; der als Islamist bekannte Mann schlug ihr mit dem Ellbogen mit voller Kraft ins Gesicht. «Er sagte später, er habe aus religiösen Motiven eine Frau treffen wollen.»
Carole, die neu auch unter Angstzuständen leidet, kann diese Woche nicht mit ihren Berufskollegen streiken; sie muss sich ein weiteres Mal operieren lassen. Schätzungsweise zwei Drittel der 188 französischen Gefängnisse waren am Dienstag ganz oder teilweise blockiert. Aufseher errichteten vor den Haftanstalten Barrikaden und zündeten Autoreifen an. Im Innern versuchten Anti-Krawall-Polizisten der Einheit CRS, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Besuchstermine sind abgesagt, oft auch die Spaziergänge. In Fleury-Mérogis südlich von Paris – dem grössten Gefängnis Europas mit 4300 Häftlingen – weigerten sich Dutzende von Insassen, in die Zellen zurückzukehren. Sie wurden mit Tränengas dazu gezwungen.
Die Streiks und Blockaden dauern seit dem 11. Januar. An jenem Tag hatte ein Insasse der Hochsicherheitsanstalt Vendin-le-Vieil (Nordfrankreich) drei Aufseher mit einer Schere attackiert und verletzt. Das Justizministerium verschwieg die Identität des Täters zuerst; Vertreter der grössten Aufseher-Gewerkschaft Ufap stellten dann aber klar, es handle sich um einen ehemaligen Al-Kaida-Attentäter deutsch-polnischer Herkunft namens Christian Ganczarski, dem auch in den USA den Prozess gemacht werden soll. Wegen eines Anschlages im Jahr 2002 in Djerba (Tunesien) verurteilt, soll er die Aufseher nun mit dem Ruf «Allahu Akbar» angegriffen haben. «Das war keine blosse Attacke, das war ein Terroranschlag», präzisierte ein Ufap-Sprecher.
In mehreren Haftanstalten kam es darauf zu spontanen Arbeitsniederlegungen. Justizministerin Nicole Belloubet empfing in den Tagen danach eine Wärterdelegation und zeigte sich zu Lohnkonzessionen bereit. Dann verletzte aber ein als «radikalisiert» bekannter Häftling in Bordeaux gleich sieben Aufseher, sechs davon spitalreif. Die beiden Gewerkschaften Ufap und CGT brachen die Verhandlungen mit der Regierung darauf ab.
Sie wollen auf die zunehmende, oft vorsätzlich geplante Gewalt islamistischer Häftlinge aufmerksam machen. Seit den Terroranschlägen von 2015 haben die französischen Behörden zwar in einigen Haftanstalten «Einheiten zur Vorbeugung der Radikalisierung» geschaffen. Das genügt aber nicht, alle 1150 wegen Radikalisierung verurteilten oder verdächtigen Häftlinge zu kontrollieren. «Meist müssen sich gewöhnliche Aufseher mit diesen Gewalttätern abgeben», meint Guillaume Pottier, ein Ufap-Sprecher aus der Umgebung von Paris. Ende vergangenen Jahres hätten sie zwei Insassen der Anstalt Fresnes in der Pariser Banlieue erwischt, wie sie von ihrer Zelle aus einen Terroranschlag geplant hätten. Ihre Zielscheibe seien «Ungläubige» gewesen – und an vorderster Front befinden sich nun einmal die Gefängniswärter.
Die zum Teil massive Überbelegung der französischen Haftanstalten fördert nach Meinung von Haftbetreuern noch die Anwerbung gewöhnlicher Krimineller durch Salafisten. Das Justizministerium hatte die Islamisten deshalb in Fresnes oder anderswo in speziellen Gebäudetrakten isoliert. 2016 wurde dieses Experiment aber wieder abgebrochen, da weder die Entradikalisierung geschweige denn die Resozialisierung Fortschritte machte.
Dass die Regierung das eigentliche Streikmotiv der Aufseher – die Angst vor der Gewalt radikalisierter Häftlinge – überhören will, hat wohl auch damit zu tun, dass sie selbst nicht mehr weiss, wie sie mit diesen Verurteilten umgehen soll.
Die Aufseher, die in Frankreich traditionell unbewaffnet sind, verlangen zumindest mehr Mittel. Justizministerin Nicole Belloubet bot deshalb am Wochenende die Schaffung von 1100 neuen Aufseherposten an. Aber auch das ist den Wärtern zu wenig. Sie wissen, dass in Syrien und Irak zahllose inhaftierte Dschihadisten auf die Auslieferung nach Frankreich warten. «Das sind wandelnde Bomben», meinte ein Aufseher vor der Anstalt Fresnes. «Wenn wir uns mit ihnen abgeben sollen, dann wollen wir auch entsprechend geschützt sein.»