Frankreich/Grossbritannien
27 Menschen sterben im eisigen Meerwasser des Ärmelkanals: Hätte die Tragödie verhindert werden können?

Die Zahl der Gummiboot-Überfahrten an die britische Küste hat stark zugenommen. Sogar illegale Migranten selber bereichern sich inzwischen an dem tödlichen Schleppergeschäft.

Stefan Brändle, Paris
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27 Menschen kamen am Mittwoch im Ärmelkanal ums Leben, unter ihnen sieben Frauen und drei Kinder.

27 Menschen kamen am Mittwoch im Ärmelkanal ums Leben, unter ihnen sieben Frauen und drei Kinder.

AP

Eine schlimme Flüchtlingstragödie im Ärmelkanal zwischen Frankreich und Grossbritannien hat am Mittwoch 27 Menschen das Leben gekostet. Nach dem Kentern des Gummibootes sind sie im eisigen Meerwasser vor Europas Küste ertrunken. Unter den Toten sind sieben Frauen und drei Kinder. Nur zwei Männer aus dem Irak und Somalia haben mit einem schweren Kälteschock überlebt.

Die Bestürzung beidseits des Ärmelkanals ist gross. Auf der gefährlichen, rund 30 Kilometer langen Fahrt nach England kommt es seit zwanzig Jahren vereinzelt zu Todesfällen - noch nie aber war fast die ganze Besatzung eines Bootes ums Leben gekommen. Bis vor wenigen Jahren versuchten kühne Migranten eher auf Sattelschleppern via Fährschiffe oder Tunnel-Eisenbahn ins Königreich überzusetzen. Diese Wege sind heute hermetisch abgeriegelt, weshalb es die Migranten mit pannenanfälligen Schlauchbooten versuchen.

Illegale Überfahrten nehmen exponentiell zu

Seit Jahresbeginn haben 26'000 Menschen die Überfahrt gewagt. 2020 waren es noch 8500. Allein am Mittwoch versuchten es laut französischen Polizeiangaben gut 900 Migranten. 255 schafften es bis an die englische Felsenküste, 671 wurden aufgefischt oder schon in Frankreich am Übersetzen gehindert. Rund um die Hafen- und Fährstadt Calais haben Freizeitsport-Anbieter kürzlich Kayak- und Gummiboote aus dem Sortiment genommen, um nicht unfreiwillig zu weiteren Tragödien beizutragen.

Französische Polizisten überwachen einen Strand im nordfranzösischen Wimereux.

Französische Polizisten überwachen einen Strand im nordfranzösischen Wimereux.

AP

Die französische Polizei fasste noch am Mittwoch vier Schlepper, die die Todesfahrt organisiert haben sollen. In der Nacht auf Donnerstag wurde ein Fünfter festgenommen. Sein Wagen trage deutsche Kennzeichen und auch das Schlauchboot stamme aus Deutschland, sagte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin.

Darmanin erklärte, er sei «voller Wut» auf die kriminellen Banden, die schwangere Frauen, Kinder und Babys beförderten.

«Für einige tausend Euro beutet man diese Menschen aus, indem man ihnen das Eldorado in England verspricht.»

Nötig sei eine grenzübergreifende Kooperation «wie gegen Terroristen», meinte der Minister mit Blick auf Belgien, Deutschland und Grossbritannien.

Migranten werden selbst zu Schleppern

Kenner der Verhältnisse in Calais fragen sich, wie es möglich war, das Gros der Schlepper nur Stunden nach der Tragödie zu verhaften. Die Vermutung liegt nahe, dass sie unter geheimdienstlicher Überwachung stehen. Darmanin betonte, die französische Polizei unternehme alles, um diesen kriminellen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Seit dem 1. Januar habe sie 1500 Schlepper festgenommen. Diese seien «wie die Mafia» organisiert und verfügten über chiffrierte Handys. In Calais stellen Ermittler fest, dass auch Migranten in das Elends-Business übergewechselt haben, nachdem sie ihr Geld selber an Profischlepper verloren hatten und in den Dünen von Calais gestrandet waren.

Delphine Rouilleault vom Hilfswerk Terrre d’asile gab am Mittwoch zu bedenken, das jüngste Drama könne «nicht auf die Schlepperfrage reduziert» werden. «Schuld ist auch die Politik der Schliessung der Routen, was den Preis für das Übersetzen erhöht und die Schlepper bereichert», meinte sie.

«Die einzige Alternative besteht darin, einen legalen Asylweg zu öffnen.»

Der britische Premier Boris Johnson will die Asylgesuche allerdings nicht erst auf britischem Boden prüfen lassen. Das sollen die Franzosen tun. Man sei personell ausserstande und auch nicht willens, diese Aufgabe schon auf ihrem Staatsgebiet zu erledigen, heisst es auf französischer Seite. Wenige Tage vor dem Bootsdrama hatte die Regierung in Paris bekannt gegeben, sie verstärke die Kontrolle des 130 Kilometer langen Küstenstreifens bei Calais durch 100 geländegängige Fahrzeuge sowie Schiffe.

«Frankreich lässt nicht zu, dass der Ärmelkanal ein Friedhof wird», erklärte Präsident Emmanuel noch am Mittwochabend. Johnson bezeichnete sich seinerseits als «schockiert, aufgebracht und sehr traurig». Er versprach, mit Frankreich zusammen «mehr zu unternehmen», um die gefährlichen Überfahrten zu verhindern. Die beiden Politiker führten ein Telefongespräch, dessen Resultat vorerst nicht bekannt war. Macron forderte jetzt eine Notfallsitzung der EU-Minister.