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Ein Umfrageinstitut behauptet, der Präsident werde sein Amt behalten können. Zwei andere Ausgänge sind – Stand jetzt – wahrscheinlicher.
Genau eine Woche vor den US-Wahlen am 3. November schaltet Präsident Donald Trump noch einmal einen Gang höher. Gleich drei Auftritte hatte er gestern auf seinem Programm, zwei davon in vermeintlichen Trump-Hochburgen, in denen er vor vier Jahren eine klare Mehrheit der Stimmen gewonnen hatte.
Das ist kein Zufall: Angesichts anhaltend schlechter Umfragewerte steht der 74-jährige Republikaner mit dem Rücken zur Wand. Erhebungen in den politisch umkämpften Bundesstaaten Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, North Carolina und Florida zeigen, dass er hinter seinem demokratischen Kontrahenten Joe Biden zurückliegt. In Michigan beträgt der Rückstand fast 8 Prozentpunkte. In Florida sind es 1,5 und North Carolina 1,2 Prozent. Hier zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab.
Will Trump seinen Sieg des Jahres 2016 wiederholen, muss er dafür sorgen, dass noch mehr seiner Anhänger zur Wahl gehen. Deshalb hat er für heute erneut drei Wahlkampfauftritte geplant.
Sein 77-jähriger Herausforderer hingegen hält die Anzahl seiner öffentlichen Auftritte weiterhin klein. Doch auch Biden ist in der Offensive. Heute Dienstag reist er nach Georgia – in einen Staat also, in dem sich vor 30 Jahren letztmals eine Mehrheit der Wähler für einen demokratischen Kandidaten ausgesprochen hatte. Dieses Jahr aber könnte es mal wieder reichen. Am Donnerstag folgt dann eine Reise nach Florida: Der «Sunshine State» ist geradezu legendär für hauchdünne Wahlresultate.
Gemunkelt wird zudem über eine Reise Bidens nach Texas, der eigentlich streng republikanischen Heimat von Ex-Präsident George W. Bush. Der zweitgrösste Bundesstaat mit 38 Wählerstimmen (siehe Text unten) hatte letztmals 1976 einem demokratischen Präsidentschaftskandidaten den Vorzug gegeben. Laut der Tageszeitung «Dallas Morning News» aber liegt Biden in Texas drei Punkte vor Trump.
Solche Umfragen sind mit Vorsicht zu geniessen. Die Erhebung der «Dallas Morning News» wird von Beobachtern als Ausreisser bezeichnet. Genau wie die Umfragen des Demoskopen Robert Cahaly, der sich einst als republikanischer Wahlstratege sein Geld verdiente. Sein Umfrageinstitut Trafalgar Group behauptet, es sei in der Lage, die Stimmung bei den so genannten «scheuen» Trump-Wählern abzubilden, die sich aus Angst vor sozialen Repressionen nicht öffentlich zu ihrer Wahl bekennen wollten.
Die Umfragen der Trafalgar Group prognostizieren deshalb mit einer gewissen Regelmässigkeit einen Wahlsieg für Trump, dank einem Vorsprung in Michigan, North Carolina und Florida. In der Branche allerdings werden solche Resultate mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen. Bei den Zwischenwahlen 2018 hatte Cahaly den Ausgang des Senatsrennens in Florida (ein Republikaner gewann) zwar korrekt vorhersagt. In Arizona und Nevada lag sein Institut aber daneben.
Schon 2016 erwiesen sich die Umfragen eine Woche vor den Wahlen als unzuverlässig. Auch 2020 scheinen kurz vor dem Ziel noch immer drei Szenarien möglich:
Die Dämme brechen angesichts steigender Covid-Zahlen und dem erratischen Verhalten des Präsidenten. Stammwähler der Republikaner wenden sich von Trump ab. Biden gewinnt in Texas, Georgia und Arizona; Staaten, in denen sich Konservative normalerweise keine Sorgen machen müssen.
Zurück zur Normalität: Das industrielle Herzland Amerikas spricht sich für den Demokraten aus: Er gewinnt die drei Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zurück. Es gelingt ihm zudem, vom demographischen Wandel des Landes zu profitieren und republikanische Hochburgen wie Arizona und Georgia zu gewinnen.
Die Umfragen waren falsch. Weil sich seine Stammwähler in Scharen ins Wahllokal begeben, gelingt es Trump, seinen Sieg von 2016 zu wiederholen. Erneut gewinnt er hauchdünn die drei Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin und kann damit die Offensive Bidens stoppen. Der Demokrat gewinnt landesweit erneut die meisten Stimmen, dank überwältigenden Mehrheiten in demokratischen Hochburgen. Das spielt aber im Wahlsystem keine Rolle (siehe Text unten).
Das amerikanische Wahlsystem verwirrt Betrachter seit über 200 Jahren. Hillary Clintons Triumph war gewaltig: Bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren holte die Demokratin landesweit fast drei Millionen Stimmen mehr als ihr republikanischer Kontrahent Donald Trump. Genützt hat ihr das letztlich aber herzlich wenig. Trotz ihres deutlichen Vorsprungs musste Clinton noch in der Wahlnacht zum Telefonhörer greifen und Trump zu seinem Sieg gratulieren.
Verantwortlich dafür ist das für Aussenstehende oft unverständliche amerikanische Wahlsystem, das «Electoral College». Anders als etwa in Frankreich, wo Präsident wird, wer die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereint, setzt Amerika auf ein indirektes Wahlsystem. Gewählt wird in zwei Schritten. In einem ersten Schritt geben die Wähler in allen 50 Bundesstaaten ihre Stimme ab. Sie wählen aber nicht den Präsidenten direkt, sondern nur die sogenannten Elektoren (oder Wahlleute: häufig lokale Parteigrössen). Bundesstaaten erhalten – je nach Bevölkerungsgrösse – unterschiedlich viele Elektoren. Insgesamt sind es 538. 48 der 50 Bundesstaaten funktionieren nach dem «Winner-Take-All»-Prinzip. Das heisst: Wer die Mehrheit der Wählerstimmen in einem Bundesstaat erhält, dem werden alle Elektoren zugeschrieben, auch wenn der Sieg äusserst knapp ausfällt. Nur Maine und Nebraska verteilen ihre Elektorenstimmen proportional.
Drei Viertel aller Staaten werden vernachlässigt In einem zweiten Schritt kommen die Elektoren am 14. Dezember zusammen (dieses Mal nur virtuell) und geben ihre Stimme für den Kandidaten jener Partei ab, von der sie entsandt worden sind. Der Kandidat, der mindestens 270 der 538 Elektorenstimmen erhält, ist offiziell als Präsident gewählt. Die Idee hinter dem System: Auch bevölkerungsarme Bundesstaaten sollen bei den Wahlen eine Rolle spielen. Würde der Präsident direkt vom Volk gewählt, läge die Kontrolle in den Händen grosser Städte.
Trotzdem kommt immer wieder Kritik auf am «Electoral College». Zum Beispiel, dass im Wahlkampf nur die «Swingstates» («Wechselwählerstaaten») eine Rolle spielen, in denen keine der beiden grossen Parteien eine klare Mehrheit hat. Rund drei Viertel aller Bundesstaaten haben bei den Wahlen eine faktische Zuschauerrolle. Kalifornien, zum Beispiel, wählt immer demokratisch, Alaska immer republikanisch. Diese Staaten werden im Wahlkampf links liegen gelassen. Dass sich das bald ändert, scheint unwahrscheinlich. Von den über 700 bisherigen Versuchen, das Wahlsystem zu modernisieren, sind alle gescheitert. (sas)