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«Bloss keinen neuen Lockdown - sollen sich doch die Leichen zu Tausenden türmen»: Premier Boris Johnson hat mit schweren Vorwürfen zu kämpfen – von seinem ehemaligen Chefberater Dominic Cummings. Und der plant bereits die nächste Stinkbombe.
Die Schlagzeilen der Zeitungen könnten an diesem Dienstag morgen brutaler kaum sein. «Boris hängt in den Seilen», schreibt die «Daily Mail». Der britische Premierminister stecke in einem «Schlamm von Schäbigkeiten», schreibt «Metro». Die Onlinezeitung «i» hat eine neue Umfrage vorangestellt: 50 Prozent der Wählerschaft sieht ihren Regierungschef «umgeben von Skandalgeschichten».
«Sleaze» lautet das Zauberwort, unter dem die Londoner Medien allerlei dubiose Entwicklungen zusammenfassen, die knapp unterhalb der Schwelle kriminellen Handelns oder handfester Korruptionsvorwürfe liegen. Bei Johnson vermischen sich derzeit mehrere Vorwürfe: Rücksichtslosigkeit gegenüber Covid-Opfern, hemmungslose Verschwendungssucht im persönlichen Bereich und die Tendenz, es mit bestehenden Vorschriften nicht sonderlich genau zu nehmen.
Jeden Morgen muss ein anderes Mitglied des britischen Kabinetts in die Londoner Medienstudios eilen und dort frohe Botschaften verkünden. Diesmal hat es Thérèse Coffey erwischt. Tapfer schwärmt die bedauernswerte Sozialministerin von neuen Staatsmillionen, mit denen britische Schulkinder den Covid-bedingten Rückstand bei ihren Lernzielen aufholen sollen.
Die Moderatoren von Fernsehen und Radio aber wollen ausschliesslich über den Regierungschef sprechen. Hat er wirklich gesagt, was bereits am Montag auf der Titelseite der normalerweise loyal konservativen «Daily Mail» prangte und an diesem Dienstag von BBC und anderen Medien bestätigt wird: «Bloss keinen neuen Lockdown - sollen sich doch die Leichen zu Tausenden türmen.» Ohne Angabe einer Quelle wird so eine Äusserung Johnsons aus einer heftigen Diskussion in der Downing Street über das beste Vorgehen gegen Sars-CoV-2 im vergangenen Oktober wiedergegeben.
Gesprächsthema sind auch mehrere Zehntausend Pfund: jene Summe von 74'000 Franken nämlich, die Johnson und seine Verlobte Carrie Symonds zusätzlich zu den staatlich erlaubten 38'000 Franken für die Umgestaltung der Dienstwohnung in der Downing Street ausgegeben haben. Offenbar sollte das Geld durch einen geheimen Fonds von Parteispendern bezahlt werden – ein Plan, den der frühere engste Berater Johnsons als «närrisch, unethisch und womöglich kriminell» denunziert hat.
Inzwischen aber habe ihr Chef die Zusatzkosten aus eigener Tasche beglichen, beteuert Coffey. Und dafür ein Privatdarlehen erhalten, das er längst hätte deklarieren müssen, bohrt der BBC-Journalist nach. Davon wisse sie nichts, erwidert die Ministerin: «Ich nehme den Premierminister beim Wort.»
Tun das die Briten mehrheitlich auch immer noch? Dass der 56-Jährige schon seit vielen Jahrzehnten immer wieder mit der Wahrheit auf Kriegsfuss steht, ist weithin bekannt. Johnsons Biografen zitieren gern genüsslich aus der Beurteilung eines Lehrers am Elite-Internat Eton: «Er scheint ehrlich zu glauben, es sei wenig grosszügig von uns, ihn nicht für eine Ausnahmeerscheinung zu halten, die von normalen Verpflichtungen befreit ist», schrieb Martin Hammond damals über seinen knapp 18-Jährigen Zögling.
Das Motiv zieht sich durch die Jahrzehnte. Der Journalist Johnson wurde von der «Times» wegen einer Lüge ebenso gefeuert wie der Politiker Johnson von seinem damaligen Parteichef Michael Howard. Die Berichte des Brüssel-Korrespondenten Johnson im «Daily Telegraph» bestanden zu nicht unwesentlichen Teilen aus Fake News. Eine langjährige Geliebte des Londoner Bürgermeisters Johnson erhielt lukrative Förderung aus der Stadtkasse.
Angesichts der neuen Vorwürfe hält Labour-Oppositionsführer Keir Starmer eine «detaillierte Untersuchung» für nötig, am späten Montag Nachmittag zitiert die Opposition Kabinettsbürominister Michael Gove vors Unterhaus. Dabei geht es nicht nur um das fatale Covid-Zitat, das der Minister dementiert; seit Wochen geistern Anschuldigungen gegen Johnson durchs Regierungsviertel von Westminster, die Zweifel an der Unbestechlichkeit und am Verantwortungsgefühl des Regierungschefs und seiner Ministerriege nähren.
Mal stellt sich heraus, dass eine Firma, an der Gesundheitsminister Matthew Hancock beteiligt ist, Aufträge des nationalen Gesundheitssystems NHS erhält. Fördergelder aus Regierungsprogrammen fliessen auf wundersame Weise in überwiegender Mehrheit in Bezirke, wo die Bevölkerung die regierenden Tories wählt. Die Lobbyorganisation Transparency International hat Zweifel an der korrekten Durchführung von 73 Regierungsverträgen im Wert von umgerechnet 4,7 Milliarden Franken angemeldet. Der Staubsaugerfabrikant James Dyson darf per SMS beim Premierminister um Steuernachlässe betteln.
Dass Dysons vertrauliche Botschaften vergangene Woche ihren Weg zur BBC fanden, muss Johnson so aufgebracht haben, dass er höchstpersönlich bei den Chefredaktoren mehrerer Zeitungen anrief und den Verdacht auf die angebliche Quelle lenkte: seinen einstigen Chefberater und Brexit-Strategen Dominic Cummings, der im November die Regierung im Streit verlassen hatte. Der arbeitslose Politikberater schlug umgehend und brutal zurück: Nicht er sei unethisch vorgegangen; vielmehr falle «der Premierminister und sein Büro tief unter die Standards von Kompetenz und Integrität, die das Land verdient».
Die Anschuldigungen, gipfelnd in dem angeblichen Leichen-Zitat, stellen politisches Dynamit dar. Denn sie erinnern die politisch Interessierten an die Abfolge von Fehlentscheidungen der unerfahrenen Johnson-Regierung in der Covid-Pandemie. Nicht einmal, sondern ein zweites und drittes Mal wurde der am Ende doch nötige Lockdown viel zu spät verhängt.
Die Folge: eine der höchsten Todesraten in Europa, einer der schlimmsten Wirtschaftseinbrüche der westlichen Welt. Erst seit dem Jahreswechsel, befördert durch den bemerkenswerten Erfolg des Impfprogramms, scheinen Johnson und seine Beraterriege das richtige Mass aus notwendiger Vorsicht und optimistischer Zuversicht gefunden zu haben.
Schon präpariert Dominic Cummings die nächste Stinkbombe gegen die konservative Regierung: Vor dem zuständigen Ausschuss des Unterhauses will er in einem Monat detailliert über die Coronapolitik im vergangenen Jahr Auskunft geben. Der Auftritt verspricht hohen Unterhaltungswert – und wenig schmeichelhafte Einblicke in Boris Johnsons Regierungshandeln.