Bringt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in der «Rede zur Lage der EU» sein Rezept gegen die Flüchtlingskrise?
Ununterbrochen rührt Brüssel dieser Tage die Werbetrommel für die Rede von Jean-Claude Juncker zur Lage
der EU, die er heute im Parlament halten wird. Nicht per Zufall spielt ihr Name auf die traditionelle «State of the Union»-Rede des amerikanischen Präsidenten an. Gezielt wirbt die Brüsseler Medienstelle mit der daran angelehnten Abkürzung SotEU. Sogar eine eigene Internetseite wurde unter www.soteu.eu eingerichtet. Und tatsächlich könnte die Aufmerksamkeit angesichts der Flüchtlingskrise kaum grösser sein. Kann Juncker Rezepte vorlegen, welche die EU in der verfahrenen Situation weiterbringt?
Ein Präsident der EU, wie es der amerikanische für die Vereinigten Staaten ist: Das wäre Jean-Claude Juncker gern. Doch seine Machtposition ist lange nicht so gefestigt wie die seines amerikanischen Kollegen: Das oftbeschworene Klischee von den vielen Diktaten aus Brüssel ist falsch. Die Mitgliedsländer, allen voran Deutschland, geben weiterhin den Ton an, die EU-Kommission verfügt hingegen nur beschränkte Macht.
Gelegenheiten zum Griff nach der Macht bieten die zahlreichen Krisen, welche die EU durchläuft. Und der Krisen-Präsident ergreift die Gelegenheiten gern. Beispielhaft zeigt sich dies an der Flüchtlingskrise, welche Junckers Rede heute inhaltlich prägen wird. Seit vergangenem Jahr schon erwarteten Fachleute einen starken Zustrom an Asylbewerbern, doch ignorierten die Mitgliedsländer dies so lange wie möglich. Seit den ersten Todesfällen im Mittelmeer im Frühling wird aber eifrig über Sofortmassnahmen diskutiert. Juncker witterte seine Chance, das Asylwesen in den Kompetenzbereich der EU zu holen: Rasch schlug er eine umfassende Migrationsreform vor. Neu soll die EU bei den Asylgründen mitreden, eigene Asylzentren betreiben und Rückschaffungen organisieren.
Am meisten Aufsehen erregte Juncker mit seinem Vorschlag, 20 000 Asylbewerber auf alle EU-Länder zu verteilen. Der geschickte Kommunikator schraubte die Zahl innert Tagen auf 40 000 hoch, um den Druck auf die Mitgliedsländer zu erhöhen. Juncker wollte einen Verteilschlüssel als provisorische Notlösung – mit dem Ziel, daraus in der Zukunft eine permanente Verteilung unter der Führung Brüssels zu machen. Die Mitgliedsländer bremsten Juncker vorerst aus. In den vergangenen Wochen spitzte sich die Situation der Flüchtlinge aber stark zu. Darum nimmt Juncker jetzt einen neuen Anlauf. Heute dürfte er verlautbaren, die Zahl auf 160 000 zu erhöhen.
Die Ankündigung liessen seine Leute allerdings schon in der vergangenen Woche durchsickern – zu stark war der öffentliche Druck auf die EU-Kommission, irgendetwas zu tun, obwohl das Asylwesen hauptsächlich Aufgabe der einzelnen Länder ist.
Juncker wiederholte damit seine inzwischen bestens bekannte Kommunikationsmasche: Stellt sich ein dringendes Problem ein, kündigt seine Kommission sofort eine umfassende Reform an, die einige Monate später erscheint, oft in Form von x-Punkte-Plänen. Der Plan wird häppchenweise kommuniziert, um die EU-Kommission als aktiv und beharrlich darzustellen. Juncker selbst macht sich in der Diskussion meist lange rar, damit seine Auftritte in den entscheidenden Momenten kurz vor einer Entscheidung mehr Gewicht erhalten. Erfolgreich ist Junckers Strategie aber nur zum Teil. Bei den Griechenland-Verhandlungen etwa wollten die Euro-Finanzminister die Kommission so weit wie möglich raushalten. Die Kommissare und Juncker persönlich schalteten sich aber aktiv in die Gespräche ein. Sie konnten damit die harte Haltung der Euro-Finanzminister lockern. Sie dürften bei der griechischen Regierung aber auch falsche Hoffnungen geweckt haben, was die Verhandlungen fast zum Scheitern brachte.
Hinter Junckers Engagement steckten aber auch langfristige Absichten, etwa das stärkere Zusammenschweissen der Euro-Zone mit einem eigenen Finanzminister und strengeren Budget-Regeln. Wie viel Erfolg Juncker damit haben wird, ist offen, die Diskussion steht noch am Anfang.
Ähnlich verhält es sich mit den vielen anderen Baustellen, welche Juncker eröffnet hat. Die Schaffung eines einheitlichen EU-Kapitalmarkts sowie eines digitalen Binnenmarkts sind in Arbeit, aber noch nicht entscheidend vorangekommen. Die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit den USA laufen, doch ist der öffentliche Widerstand riesig.
In solchen konkreten Punkten dürfte sich Juncker in seiner Rede indes nicht verlieren. Vielmehr wird er für die europäische Idee, Werte und Ideale werben und die Stärke des europäischen Projekts beschwören.
Juncker weiss aber genau, dass die Griechenland-Krise und der aktuelle Umgang mit Asylbewerbern sowohl rechten als auch linken EU-Kritikern viele Argumente liefern. Um diese zu entkräften, will Juncker eine erfolgreiche EU. Und das heisst für den Kommissionspräsidenten in vielen Fragen: mehr EU. Oder genauer gesagt: mehr Juncker.