Der Brexit. Fast drei Jahre wurde darüber gestritten. Nun hat Premierminister Boris Johnson einen neuen Deal – doch das heisst noch gar nichts. Denn der Brexit ist vor allem eines: Eine Chronik des Chaos.
Am Donnerstag wurde das verkündet, was niemand mehr erwartet hatte: Es gibt einen Brexit-Deal zwischen der EU und Grossbritannien. Doch der Moment des Erfolgs war nur von kurzer Dauer. Bereits Minuten nach Boris Johnsons Ankündigung regte sich Widerstand. Viele Beobachter gehen davon aus, dass das Austritts-Abkommen im Parlament abgelehnt wird.
Doch um was geht es bei diesem Deal genau? Weshalb könnte er abgelehnt werden? Und wie geht es während der nächsten Tage weiter? Wir klären die wichtigsten Fragen.
Das Parlament kommt zu einer Sondersitzung zusammen. Es ist wahrscheinlich, dass daraus eine Monsterdebatte werden könnte, die bis in die späten Abendstunden dauern wird. Dabei sollen die wichtigsten Punkte des Austrittsabkommens debattiert werden. Doch die verschiedenen Gruppierungen werden sich laut Guardian kaum einig. Brexit-Hardliner werden dabei betonen, dass der Deal zu weit gehe, Brexit-Gegner werden hervorheben, dass der Deal nicht weit genug gehe. Die BBC prognostizierte, dass Boris Johnson vor den gleichen Problemen stehe wie einst Theresa May.
Wie britische Medien berichten, werde im Parlament eine zweite Volksabstimmung immer populärer. Mehrere Parteien würden diese mittlerweile unterstützen. Wie der Guardian schreibt, sei es theoretisch gut möglich, dass am Samstag neben Johnsons Brexit-Deal auch gleichzeitig noch über eine zweite Volksabstimmung debattiert und abgestimmt werde. Und dieses Vorhaben könnte im britischen Parlament sogar die besseren Chancen haben, als der Brexit-Deal selber, berichtet die Financial Times.
Doch auch selbst wenn Johnsons Deal im House of Commons durchkommen sollte, ist das Abkommen noch lange nicht im Trockenen. Denn wenn das Austrittsabkommen im britischen Unterhaus, dem House of Commons, bei der Abstimmung am Samstag angenommen wird, geht es weiter in das House of Lords.
Dort, im britischen Oberhaus, dem House of Lords, wird dann eine Notfalldebatte einberufen, wo verschiedene Einzelheiten des Austrittsabkommens verhandelt und Feinheiten geklärt werden. Auch das Oberhaus muss dem Deal zwingend zustimmen.
Erst wenn beide Häuser – Unter- und Oberhaus dem Austrittsabkommen zugestimmt haben, wird das fertige Gesetz Queen Elizabeth II vorgelegt. Es wird gemunkelt, dass die Anwälte der Queen zuerst eine Rechtsprüfung durchführen werden, wie sie dies bei der Parlamentseröffnungs-Ansprache vor knapp einer Woche auch getan haben, bevor die Queen dann dass das Abkommen unterzeichnet. Erst dann ist das Gesetzt auch wirklich rechtsgültig.
Vor allem im britischen Parlament ist diese Frage nicht ganz einfach zu beantworten. Aus Staatsebene ist es etwas einfacher. Klar dafür sind die drei «Konfliktparteien»: Der britische Premierminister Boris Johnson, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker und der irische Taoiseach Leo Varadkar.
Im britischen Parlament sind die Tories – Johnsons Partei – für den Deal. Alle anderen Parteien, also Labour, Liberale, Grüne, die schottischen Nationalisten, die walisischen Nationalisten und die nordirischen Unionisten sind aus unterschiedlichen Gründen voraussichtlich dagegen. Da Johnson eine Minderheitsregierung anführt, wird es für ihn extrem schwierig, seinen Deal durch das Parlament zu kriegen.
Mit dem neuen Deal ist der Backstop vom Tisch. Dieser war während Jahren ein Streitpunkt in den Verhandlungen. Der Deal garantiert offene Grenzen zwischen der Republik Irland und Nordirland, das zu Grossbritannien gehört. Daher wird Nordirland weiterhin einer Anzahl von EU-Regeln unterliegen und Teil des Binnenmarkts und der Zollunion bleiben, Warenkontrollen würden «am Eintrittspunkt» der Waren stattfinden, nicht jedoch an der Grenze. Doch wie genau das funktionieren soll, ist noch nicht geklärt.
Alle vier Jahre darf Stormont, so heisst das nordirische Regionalparlament, in Zukunft darüber abstimmen, ob es diese Regeln beibehalten will oder nicht. Brexit-Hardliner lehnen dies jedoch ab. Grossbritannien bleibt bis mindestens Ende 2020 und spätestens Ende 2022 in der europäischen Zollunion und im EU-Binnenmarkt. Diese Zeit soll dann genutzt werden um ein umfassendes Freihandelsabkommen abzuschliessen.
Seit Beginn der Verhandlungen haben sich Grossbritannien und die EU vor allem um einen Punkt gestritten: den Backstop. Dieser besagte, dass wenn nach dem Austritt bis 2020 keine bessere Lösung gefunden würde, automatisch eine Klausel in Kraft getreten wäre, die Nordirland weiterhin EU-Regeln unterworfen hätte – obwohl Nordirland nicht mehr Teil der EU gewesen wäre. Dies wäre eine Gefahr für den Zusammenhalt Grossbritanniens gewesen, kritisierten viele Briten, da für Nordirland andere Regeln gegolten hätten als für den Rest des Vereinigten Königreichs.
Die Debatte im Parlament diesen Samstag ist nur der Höhepunkt eines langwierigen und äusserst komplizierten Prozesses, der schon lange andauert. Denn der Brexit beschäftigt die Menschen seit nun knapp drei Jahren. Aber was ist in dieser Zeit alles passiert? Wir haben für Sie die wichtigsten Stationen rund um den Brexit zusammengefasst.
Nach einem äusserst emotionalen Abstimmungskampf stimmen rund 52 Prozent der Britinnen und Briten für den Austritt des Landes aus der EU. Das Resultat überrascht, da Prognosen einen Verbleib vorausgesehen haben. Es ist der Beginn eines Problems, das bis heute andauert.
Theresa May galt lange als erklärte Brexit-Gegnerin, sagt nach Ihrer Wahl dann aber, dem Votum der Bürger für den Austritt des Landes aus der EU zu folgen. Einen Deal oder eine klare Absicht gebe es jedoch noch nicht, die Regierung von Vorgänger David Cameron sei schlicht nicht auf das Abstimmungsresultat vorbereitet gewesen.
In einem symbolischen Akt unterzeichnet Theresa May am 29. März den Kündigungsbrief an die Europäische Union. Praktisch alle britische Zeitungen drucken das obenstehende Foto ab und nennen es den «Moment der Unabhängigkeit».
Entgegen aller Erwartungen kündigte Theresa May vorgezogene Neuwahlen für den 8. Juni 2017 an. Dabei verlor die konservative Tory Partei dann ihre Parlamentsmehrheit und war fortan auf die Unterstützung der konservativen nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) angewiesen.
Die Brexit-Unterhändler Grossbritanniens und der EU beginnen mit den Verhandlung für einen Austrittsvertrag. Der Prozess gestaltet sich als äussert schwierig und umständlich, da beide Parteien kaum zu Zugeständnissen bereit sind.
Grossbritannien und die EU einigen sich auf einen Austrittsvertrag, der von den 27 Mitgliedsstaaten ratifiziert wird.
Am 15. Januar stimmt das britische Parlament zum ersten Mal über das langwierig ausgehandelte Brexit-Abkommen ab. Theresa May erlitt dabei eine historische Niederlage mit 432 Nein- zu 202 Ja-Stimmen. Über 100 Abgeordnete der eigenen Regierungspartei stimmen im Parlament gegen das Brexit-Abkommen. Die Ablehnung im Parlament ist deshalb so gross, weil viele Parteien mit der Backstop-Lösung der EU nicht einverstanden sind. Gerade bei Brexit-Hardlinern gilt der Backstop als eine Art Zwangsjacke, welche das Land noch Jahre in der Eu halten werde und eine demokratische Lösung verunmögliche. Der Backstop wird während der kommenden Monate der Hauptstreitpunkt zwischen Grossbritannien und der EU sein.
Das Brexit-Abkommen wird mit 391 zu 242 Stimmen erneut abgelehnt. Gleichzeitig stimmt das Parlament gegen einen «No-Deal-Brexit» und spricht sich am Folgetag für einen Terminaufschub des Brexit aus.
Die EU zeigt sich bereit, die Bitte Theresa Mays zu erfüllen und den Briten mehr Zeit für den Brexit zu geben.
Dem Parlament werden acht verschiedene Alternativen zum Brexit-Deal von Theresa May vorgelegt. Das Parlament lehnt alle Alternativen ab.
Das Brexit-Abkommen wird mit 344 zu 286 Stimmen erneut abgelehnt.
Theresa May bittet die EU um eine Fristverlängerung bis zum 30. Juni.
Die 27 EU Staaten gewähren dem Vereinigten Königreich eine Fristverlängerung bis zum 31. Oktober 2019. Dies allerdings mit der Bedingung, dass Grossbritannien an den EU-Wahlen am 23. Mai 2019 teilnimmt.
An den Europa-Wahlen schneiden die Tories extrem schlecht ab. Grosse Gewinner sind die Brexit-Partei, die sich für einen No-Deal einsetzt und die Liberalen, die den Brexit verhindern wollen.
Theresa May erklärt vor den Medien, dass sie am 7. Juni ihr Amt als Parteivorsitzende der Tories niederlegen will. May will Premierministerin bleiben, bis ein Nachfolger gefunden ist.
Zehn Kandidaten treten an im Rennen um Theresa Mays Nachfolge als Premierminister des Vereinigten Königreichs von Grossbritannien und Nordirland. Während der folgenden Wochen findet im ganzen Land ein Wahlkampf mit mehreren Wahlgängen innerhalb der Tory-Partei statt.
Grossbritannien erhält mit Boris Johnson einen neuen Premierminister. Theresa May tritt zurück und die Queen betraut Johnson mit der Bildung einer neuer Regierung.
Boris Johnson verfügte eine fünfwöchige Zwangsbeurlaubung des britischen Parlaments. In dieser Zeit dürfen die Parlamentarier nicht tagen. Der Entscheid führt zu massiven Protesten im ganzen Land
Das Parlament verabschiedet ein Gesetz, wonach die britische Regierung einen Deal mit der Europäischen Union vorweisen muss. Sollte dies nicht geschehen, muss Johnson in Brüssel eine erneute Verschiebung des Brexit-Datums bis zum 31. Januar 2020 beantragen.
In einem letzten Kraftakt vor der Zwangsbeurlaubung lehnt das Parlament Neuwahlen klar ab und verabschiedet zudem ein Gesetz, welches die britische Regierung dazu zwingt, Dokumente und Kommunikations-Verläufe zum Brexit offenzulegen. Die danach veröffentlichen «Operation Yellowhammer»-Dokumente, welche die Risiken und Folgen eines ungeregelten Brexits aufzeigen, schrecken viele Britinnen und Briten auf.
Mit tumultartigen Szenen, Sitzblokaden, viel Geschrei und Beleidigungen wird das Parlament in der Nacht vom 10. auf den 11. September um 02.30 Uhr (Schweizer Zeit) in die Zwangsbeurlaubung geschickt. Gegen die Parlamentsauflösung wird vor dem Court of Sessions in Schottland und dem High Court in England Klage eingereicht. Beide Gerichte fällen ein Urteil und geben die Klage weiter an den UK Supreme Court, das höchste Gericht des Vereinigten Königreichs.
Mit dem «Gerichtsprozess des Jahrhunderts» kippt der UK Supreme Court, das höchste Gericht Grossbritanniens, Boris Johnsons Entscheidung, das Parlament in die Zwangsferien zu schicken. Das Gericht verurteilt die Regierung ungesetzmässig gehandelt zu haben und beschuldigt indirekt Boris Johnson, die Queen belogen zu haben. Das Parlament wird daraufhin sofort wieder zusammengerufen.
Die beiden Verhandlungsführer Michel Barnier, Brexit-Chefunterhändler der EU, und sein britischer Amtskollege Stephen Barclay, Staatssekretär für den Brexit, einigen sich auf ein neues Austritts-Abkommen.