Mit der aktuellen Krise von Kertsch haben die Spannungen zwischen Moskau und Kiew eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Wirtschaftlich leiden vor allem die ukrainischen Hafenstädte Berdjansk und Mariupol.
«Achtung Gefahr! Zutritt verboten» steht am Quai unter dem Frachter «Peace» (Frieden). Es ächzen die Kräne – Tausende von Tonnen türkische Tonerde müssen an diesem Vormittag schleunigst entladen und in offene Güterwagen gefüllt werden. Der in Burgas gemeldete 15000-Tonnen-Frachter hat sie aus der Türkei in die Ukraine gebracht. Sobald diese Ladung gelöscht ist, schwimmt der Friedensbote unter bulgarischer Flagge auf die andere Hafenseite und lädt vor Ort produzierte Metallplatten, die nach Italien müssen. «Die russischen Grenzschützer waren freundlich, aber wir mussten drei Tage auf sie warten», erzählt der wachhabende Schiffsoffizier der «Peace». «Vor einem Krieg habe ich keine Angst», sagt der Schiffsoffizier, der wie ein Grossteil der Besatzung aus den Philippinen stammt, «der russische Präsident und mein Präsident sind gute Freunde».
Anders sieht die Lage für die Ukraine aus. Bis zu 15000 Dollar koste ein Tag Wartezeit bei Kertsch, rechnet Aleksandr Olejnik, der Hafendirektor von Mariupol vor. Mindestens drei Tage dauere heute die Wartezeit alleine bei der Einfahrt, in Extremfällen könne sie auch sieben Tage betragen. Vor dem Brückenbau vom russischen Festland auf die ukrainische Halbinsel Krim ab August 2017 habe die Wartezeit zehn bis zwölf Stunden betragen. Dieselbe Warterei kommt noch einmal bei der Ausfahrt. «Das bedeutet einen grossen Verlust für den Schiffseigentümer», rechnet Olejnik vor. Daran leidet auch der Hafen. «Solch lange Wartezeiten diskreditieren die ukrainischen Häfen am Asowschen Meer, in der Folge kommt es zum Arbeitsplatzabbau und sozialen Problemen; und das will Russland offensichtlich», so der Hafendirektor.
Zuletzt ist der Güterumschlag im Hafen zum zweiten Mal massiv eingebrochen. «Zuerst kam 2014 der Krieg und nun die mit nur 33 Meter über dem Meeresspiegel tief hängende Krim-Brücke», fasst Olejnik in seinem Büro über dem Hafen zusammen. Grössere Schiffe können sie nicht mehr passieren. Verglichen mit 2013 hat sich der Güterumschlag halbiert. Nun habe der Hafen Kurzarbeit eingeführt, die Belegschaft von 3800 aber behalten. Im benachbarten Berdjansk, wo der Hochseehafen der bei weitem grösste Arbeitgeber ist, wurden die ersten paar Hundert Angestellten im Herbst entlassen.
Gemäss einem bilateralen Abkommen zwischen Russland und der Ukraine aus dem Jahr 2003 gilt das Asow-Meer, der nordöstlichste Teil des Schwarzen Meeres, als Binnengewässer. Russische wie ukrainische Schiffe haben das Recht, bis vor die jeweilige Küste zu fahren. Und beide Staaten können überall Schiffe kontrollieren. Gebrauch davon macht vor allem der russische Grenzschutz, der seit April Handelsschiffe aller Herren Länder festsetzt. Rund 200 Schiffe haben die Russen angeblich aus Sicherheitsgründen alleine seit der Eröffnung der Brücke von Kertsch angehalten, um Mannschaft und Ladung zu kontrollieren. Beeinträchtigt wird der Schiffsverkehr zusätzlich durch Kriegsschiffe, die sich durchaus feindlich gegenüberstehen, wie der russische Beschuss dreier kleiner ukrainischer Kreuzer und die Festnahme der Besatzungen (siehe Kasten unten) am Sonntagabend gezeigt hat. Die Situation im Asow-Meer ist damit ausser Kontrolle geraten, und der ukrainisch-russische Konflikt erneut eskaliert. Im Zentrum steht nun das flachste Meer der Welt, und nicht die nahe Donbas-Front, die sich 15 Kilometer östlich des Hafens den einstigen Erholungsgebieten von Mariupol entlangzieht.
In der rund 70 Kilometer westlich von Mariupol gelegenen Hafenstadt Berdjansk kann man die Patrouillenboote des russischen Grenzschutzes und zum angeblichen Schutz der Brücke verlegte Kriegsschiffe bereits von der Küste aus beobachten. Wer den Schiffsverkehr stören will, kontrolliert am besten hier. Denn nur wenige Kilometer vor der Hafeneinfahrt zweigt die Fahrrinne für Handelsschiffe nach Mariupol ab. Diese erlaubt es Hochseeschiffen, sich sicher zum Zielhafen zu bewegen. Die Präsenz russischer Kriegsmarine im Asowschen Meer provozierte in den vergangenen Monaten eine Verlegung ukrainischer Sicherheitskräfte. Die Konflikte nehmen seitdem kontinuierlich zu. Im März brachten ukrainische Grenzwächter den russischen Fischkutter «Nord» auf und schleppten ihn zu Abklärungen in den Hafen. Russland antwortete ein paar Wochen später mit der «Verhaftung» eines Fischkutters aus Berdjansk. Die Mannschaft kam zwar Anfang November frei, doch inzwischen haben die Russen unweit ihres südlichen Asow-Hafens Jelsk einen weiteren ukrainischen Fischkutter geentert und abgeschleppt.
Helikopter donnern über die 110 000-Einwohnerstadt Berdjansk, während Bürgermeister Wladimir Tschepurnoi hoffnungsfroh davon berichtet, dass diesen Sommer fünfmal mehr Touristen in seine Stadt gekommen seien als vor der russischen Annexion der Krim. Der Lärm der Rotoren bedeutet für die Stadt neue Sorgen – gepaart mit neuem Ruhm. Die ukrainische Armee hat Berdjansk nämlich zum zweitwichtigsten Flottenstützpunkt nach Odessa auserkoren. Zwei fabrikneue kleine Kreuzer wurden inzwischen in Berdjansk gewassert; dazu liessen die Russen einen Schlepper und das Rettungsschiff «Donbas» weitgehend ungehindert durch die 18 Kilometer lange, felsige Meerenge von Kertsch passieren.
Den gleichen Weg wollten auch die drei am Sonntag geenterten ukrainischen Panzerschiffe nehmen. Doch diesmal kam es zum Beschuss. Drei ukrainische Matrosen wurden verletzt, darunter ein Militärgeheimdienstoffizier, wie Kiew gestern zugab. «Ein zweites Krimszenario am Asow ist nicht mehr möglich», gibt sich Tschepurnoi im Gespräch mit dieser Zeitung überzeugt. Diesmal sei die Ukraine gewappnet: «Diese Marinebasis gibt uns Sicherheit».
Doch gilt dies auch für eine wirtschaftliche Ausblutung der Asow-Region? In Berdjansk boomt sichtbar der Tourismus. In Mariupol hingegen ist nicht nur die Luft wegen der beiden Eisenhütten schlecht, auch die Front ist gefährlich nah. Keine gute Voraussetzung für den Tourismus. Bei der Fahrt durch die Innenstadt vom Mariupol kommt man dazu immer wieder an dem Anfang Mai 2014 ausgebrannten Stadtparlament vorbei. Prorussische Aktivisten hatten damals auch in der wichtigsten Hafenstadt des Donbas zum Aufstand gegen Kiew aufgerufen. Rund 30 Todesopfer forderten die Auseinandersetzungen, in deren Folge Mariupol gut einen Monat lang zur «Volksrepublik Donezk» (DNR) gehörte. Dann wurde sie vom ukrainischen Freiwilligenbataillon «Asow» zurückerobert. Mitentscheidend dabei war, dass die lokalen Oligarchen – erschreckt von der Rechtlosigkeit unter den Separatisten – die Seite wechselten. Nicht zuletzt deswegen ist der russische Zorn auf Mariupol gross. Im Januar 2015 wurde von den prorussischen Separatisten gar ein Wohngebiet beschossen. 30 Zivilisten kamen damals ums Leben. Heute wird nicht nur an der Frontlinie, sondern eben auch auf dem Meer gekämpft.
Die Früchte dieser neuen russischen Politik erntet Enver Tkitischwili jeden Tag. Der Ukrainer georgischer Abstammung ist seit 2010 Direktor von «Azovstal», einem der grössten Stahlwerke der Ukraine. Noch 10000 Arbeitsplätze bietet «Azovstal», welches laut Firmendirektor die Löhne dauernd anhebt. «Wir wollen zeigen, dass es sich lohnt, hier zu bleiben und für die Ukraine zu arbeiten», gibt sich Tkitischwili im Gespräch patriotisch. Allerdings musste auch «Azovstal» die Belegschaft seit 2014 um 2500 Arbeiter zurückfahren. Sein Werk arbeite noch mit 60 Prozent der Vorkriegskapazität, gesteht Tkitischwili ein. Im Gespräch lässt der mächtige Firmendirektor schnell durchblicken, dass der Hafen von Mariupol für ihn nur noch eine Notlösung ist. «Viele Käufer wollen den Hafen Mariupol nicht mehr riskieren, da die Lieferzeiten zu unstabil geworden sind», begründet Tkitischwili.
Russland setze bisher noch keine vollständige Blockade im Asowschen Meer durch, aber die Häfen stürben einen langsamen Tod, sagt Anders Aslund im Gespräch am Rande des von der Victor-Pinchuk-Stiftung organisierten «Yalta European Strategy Forums» in Kiew. Der schwedische Ukraine-Kenner ist seit kurzem im Verwaltungsrat der ukrainischen Eisenbahn. Er schätzt, dass alleine die beiden grössten Stahlwerke in Mariupol zwei Drittel ihrer Produktion beim Export auf andere Schwarzmeerhäfen umleiteten. Hätte die Bahn im Donbas nicht so viel Rollmaterial und Lokomotiven verloren, wären es noch mehr, sagt Aslund.